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„Informationsträger“ als Rückendeckung

Anders als in den nationalen Parlamenten gibt es im EU-Parlament häufig wechselnde Mehrheiten: Da es keine EU-Regierung gibt, gibt es bei Abstimmungen in Brüssel oder Straßburg auch keine feste Regierungsmehrheit. Die Allianzen müssen von Fall zu Fall neu geschmiedet werden. Das macht die Abgeordnetenarbeit besonders spannend, stellt aber auch besondere Ansprüche an die Parlamentarier.

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Vor allem neu gewählte Abgeordnete - selbst wenn sie als nationale Parlamentarier bereits einschlägige Erfahrung haben - brauchen meist einige Zeit, auch Jahre, bis sie die Spielregeln des EU-Parlaments durchschauen. Sie müssten außerdem zuerst lernen, „europäisch zu denken“, sagt Doru Frantescu, Mitbegründer der NGO Votewatch, die die Arbeit des EU-Parlaments analysiert, gegenüber ORF.at.

Nur indem man zeige, dass man die Sensibilitäten der Kollegen verstehe und wisse, in welchem Land es welche Besonderheiten gebe, gewinne man das Vertrauen der Kollegen. Ein zusätzliches Plus sei es, wenn man viele Sprachen spreche und sich in mehreren Landeskulturen gut auskenne. Beides unterstreicht auch der bisher wohl erfolgreichste österreichische EU-Abgeordnete Hannes Swoboda, der von 2012 bis 2014 Chef der zweitgrößten - der sozialdemokratischen - Fraktion war.

Politiker Elmar Brok

picturedesk.com/Action Press/Gutschalk, Thorsten

Der Deutsche Elmar Brok ist Chef des Außenpolitischen Ausschusses, bestens vernetzt und ein echtes Schwergewicht

Arbeitsraum oder Warteraum

Die wichtigste Voraussetzung sei aber sowieso, dass man EU-Abgeordneter sein will, so Swoboda. Er erklärt, warum sich im EU-Parlament - neben engagierten und umtriebigen Mandataren - auch viele Abgeordnete finden, die niemals durch Arbeit auffallen: Für viele sei das EU-Parlament ein „Warteraum“, in dem sie auf einen attraktiven Posten auf nationaler Ebene warteten.

Networking plus Expertise

Die größte Herausforderung für Abgeordnete sei es, dass sie auf mehreren Ebenen gleichzeitig und gleich intensiv tätig sein müssen, betont zudem Marton Kovacs, der EU-Abgeordnete coacht und berät, im Gespräch mit ORF.at. Es sei entscheidend, gute Kontakte sowohl in der eigenen Fraktion als auch fraktionsübergreifend - etwa im Ausschuss - aufzubauen. Und auch gute Mitarbeiter seien „ganz, ganz wichtig“, so Swoboda. Sie seien in vielen Fällen die „Informationsträger“.

Doru Frantescu (NGO Votewatch)

ORF.at/Guido Tiefenthaler

Doru Frantescu findet, dass die Arbeit der Abgeordneten zu wenig bei denen ankommt, auf die es ankommt: den EU-Bürgern

Kunst des Kompromisses

Es ist ein klassisches Geben und Nehmen - ein System, das Kompromisse bevorzugt statt klarer Sieger oder Verlierer. Das erfordere viel diplomatisches Geschick, denn das Gedächtnis der Abgeordneten sei lang, so Kovacs. Ausbremsen oder kollegiales Entgegenkommen könnten sich noch Jahre später bei Entscheidungen - positiv oder negativ - auswirken, wenn etwa ein Abgeordneter die Zustimmung zu einem Ausschussbericht verweigere.

Aus eigener Erfahrung weiß auch Swoboda, dass es entscheidend ist, "auf die Leute zuzugehen, andere Überzeugungen zu respektieren, aber dann zu versuchen, mit guten Argumenten die eigene Position näherzubringen. Und man müsse bereit sein, von eigenen fixen Standpunkten abzugehen, „um auf den Kern der Sache zu kommen und etwas durchzusetzen“.

Zugleich müsse man sich inhaltlich spezialisieren und in einem Themenbereich Expertise aneignen, so Kovacs, der mit „How To Run The European Parliament“ heuer eine Art Gebrauchsanleitung für Abgeordnete verfasste. Das sei Voraussetzung dafür, um etwa zum Berichterstatter ernannt zu werden, also die Verhandlungen im Parlament über einen Gesetzesvorschlag zu leiten.

Schwierige Balance

Darüber hinaus müsse man noch den Kontakt zum eigenen Wahlkreis im Heimatland halten und dort aktiv sein. Die EU-Abgeordneten müssten auch Zeit in die Beziehungen zur Parteizentrale in ihrer Hauptstadt investieren - und der Kontakt zu Medien, um den eigenen Bekanntheitsgrad zu steigern, komme noch dazu.

Kovacs und Frantescu sind sich einig, dass viele Abgeordnete daran scheitern, die richtige Balance zwischen den Ebenen zu finden. Frantescu: „Ich kenne viele Abgeordnete, die im EU-Parlament gute Arbeit geleistet haben - aber sie wurden nicht wiedergewählt, weil sie zu Hause niemand gekannt hat.“ Andere würden genau aus diesem Grund zu viel Zeit in ihrem Wahlkreis verbringen, worunter wiederum die Sacharbeit leide.

Narzissmus und Empathie

Und Kovacs entwirft so etwas wie ein psychologisches Profil für einen Karriereabgeordneten: Man brauche eine kräftige Portion Narzissmus, damit ständige Anwürfe und Kritik nicht dazu führten, dass man an sich selbst zweifle. Gleichzeitig brauche man Empathie, um zu hören, was Wähler und Partei von einem wollen. Das sei ein „schwieriger Spagat“. Die wenigen, die diesen wirklich zustande brächten, würden auch Karriere machen, ist der Politikberater überzeugt.

Kopfhörer in einem Sitzungssaal

ORF.at/Guido Tiefenthaler

Sprachkenntnisse sind wichtig, denn die entscheidenden Gespräche finden oft informell - und ohne Hilfe durch Übersetzer - statt

Lobbying in Hauptstädten

Im Grunde genommen müsse ein Abgeordneter „arbeiten wie ein Lobbyist“. Wenn ein Mandatar in einem Thema die zentrale Figur im Parlament werden wolle, müsse er schon lange bevor ein Gesetzesvorschlag dazu von der Kommission vorgelegt werde, aktiv werden, so Kovacs. Er müsse bereits vorher bei den zuständigen Stellen in Kommission und Rat und bei den nationalen Regierungen in den Hauptstädten vorstellig werden, sich interessieren und eigene Vorschläge platzieren. Zugleich müsse sich der Abgeordnete im Parlament zum Experten machen - etwa indem er Expertenhearings zu dem Thema organisiere, so Frantescu.

Faktor Größe

Der Erfolg ist freilich auch von Faktoren abhängig, die nicht persönlich beeinflussbar sind: So haben Mitglieder von großen Fraktionen mehr Chancen als kleine, Positionen mit Einflussmöglichkeit im Parlament zu erobern. Dasselbe gilt innerhalb der einzelnen Fraktionen: Große nationale Delegationen bekommen mehr vom politischen Kuchen, den es zu verteilen gibt, als kleine Delegationen wie etwa Österreich.

Mit der nötigen Expertise und Vernetzung kann man aber diesen „Startnachteil“, wie es Frantescu nennt, durchaus ausgleichen. Das prominenteste österreichische Beispiel dafür ist bisher der 2014 ausgeschiedene SPÖ-EU-Parlamentarier Swoboda. Dass er in den Augen seiner Kollegen gute Arbeit leistete, zeigte sich spätestens, als er 2012 zum Fraktionschef der Sozialdemokraten gewählt wurde.

Wenn es sich gut trifft, so ist ein Abgeordneter inhaltlich zuständig für ein Thema, das EU-weit und auf nationaler Ebene auf Interesse stößt, wie etwa die irische Abgeordnete der Vereinigten Linken, Lynn Boylan. Sie war Berichterstatterin für einen Initiativbericht des Parlaments zum Recht auf Wasser, ein in Irland besonders heißes Thema.

Falsche Proportionen

Das Gros der europäischen Abgeordneten - und das gilt für alle 28 EU-Staaten - ist wenig bekannt. Dabei seien sie „meist einflussreicher als nationale Abgeordnete“, so Frantescu. Das helfe aber letztlich nichts, wenn das die Öffentlichkeit nicht wahrnehme. Und hier stehen die Abgeordneten vor dem wohl größten Dilemma: Die Gesetze, die das EU-Parlament mitschreibt und -beschließt, betreffen alle 500 Millionen EU-Bürger. Doch, so Frantescu: Es fehle den Abgeordneten an Ressourcen und Zeit, das dafür nötige Bewusstsein zu schaffen.

Guido Tiefenthaler, ORF.at, aus Brüssel

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