Schelte für Russlands Syrien-Einsatz
Nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs im türkisch-syrischen Grenzgebiet hat sich US-Präsident Barack Obama hinter den NATO-Verbündeten Türkei gestellt. „Die Türkei hat wie jedes Land das Recht, ihren Luftraum zu verteidigen“, sagte Obama am Dienstag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem französischen Staatschef Francois Hollande in Washington.
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Russland operiere in seinen Einsätzen gegen gemäßigte syrische Rebellen sehr nahe an der türkischen Grenze, so Obama weiter. Würde Russland sich hingegen auf den Kampf gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) konzentrieren, wäre das Ereignen eines solchen Zwischenfalls viel unwahrscheinlicher.
Warnung vor Eskalation
Allerdings sei es nun wichtig, dass die Türkei und Russland Gespräche aufnehmen, um „herauszufinden, was genau passiert ist“. Es müsse „jede Art der Eskalation“ verhindert werden. Auch Hollande warnte vor einer Eskalation. Obama plädierte erneut für eine politische Lösung im Bürgerkrieg in Syrien. Die USA schließen deshalb eine verstärkte militärische Zusammenarbeit mit Russland im Kampf IS nicht aus. Bei einem „Strategiewechsel“ Moskaus gebe es „große Möglichkeiten“ zur Kooperation, sagte Obama weiter: „Russland ist willkommen, Teil unserer breiten Koalition zu sein.“

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Der französische Präsident Francois Hollande bei US-Präsident Barack Obama
Vorher müsse Moskau sich bei Luftangriffen in Syrien aber auf den IS als Ziel statt auf die gemäßigten Rebellen konzentrieren und einen politischen Wandel in Damaskus unterstützen. Russland müsse aktiv einen Waffenstillstand und den Wechsel zu einer demokratisch gewählten Regierung unterstützen.
Kampfjetabschuss belastet mögliche Anti-IS-Koalition
Der Abschuss eines russischen Kampfbombers am Dienstag belastet ein gemeinsames Vorgehen gegen den IS.
Erdogan: Recht, Grenzen zu schützen
Die NATO-Staaten sicherten dem Bündnispartner Türkei ihre Solidarität zu. Gleichzeitig warnten sie allerdings vor einer weiteren Zuspitzung der Lage. „Ich rufe zu Ruhe und zu Deeskalation auf“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Dienstagabend nach einer von der Türkei beantragten Sondersitzung des NATO-Rates in Brüssel. In ihm sitzen Vertreter aller 28 Bündnisstaaten.
ORF-Korrespondent Fritz über den NATO-Gipfel
ORF-Korrespondent Peter Fritz berichtet vom NATO-Gipfel in Brüssel und über das Ergebnis der Beratungen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan machte derweil in seiner ersten Stellungnahme zu dem Abschuss deutlich, dass die Türkei eine Verletzung ihres Luftraums nicht dulde. „Jeder muss das Recht der Türkei respektieren, ihre Grenzen zu schützen“, sagte Erdogan in Ankara.
Luftraum verletzt oder nicht?
Erkenntnisse der NATO deuten darauf hin, dass das von der Türkei abgeschossene russische Kampfflugzeug zuvor tatsächlich den türkischen Luftraum verletzt hat. „Die Informationen, die wir von anderen Alliierten haben, stimmen mit dem überein, was wir von der Türkei bekommen haben“, sagte Stoltenberg weiter. Den türkischen Angaben zufolge wurde das Kampfflugzeug zehnmal binnen fünf Minuten gewarnt, dass es in fremden Luftraum eingedrungen sei. Auch ein zweiter Kampfjet habe sich aus Syrien kommend der Grenze genähert. Daraufhin seien zwei türkische F-16-Jets aufgestiegen und hätten die ihnen unbekannte Maschine entsprechend den Einsatzregeln in der Grenzregion Hatay abgeschossen.
Russland bestreitet die türkische Darstellung, dass der abgeschossene Bomber vom Typ Su-24 in den türkischen Luftraum eingedrungen sei. Der Zwischenfall am Dienstag ist das erste Mal seit Beginn des russischen Militäreinsatzes in Syrien Ende September, dass ein Armeeflugzeug des Landes abgeschossen wurde.
Putin schäumt
Der Kreml hatte in den ersten Stunden nach dem Zwischenfall noch sehr vorsichtig formuliert - doch zu Mittag holte Russlands Präsident Wladimir Putin dann zum verbalen Schlag gegen die Türkei aus.
Der Abschuss sei ein „Dolchstoß in den Rücken“, ausgeführt von „Helfershelfern von Terroristen“, sagte Putin bei einem Treffen mit dem jordanischen König Abdullah II. in Sotschi. Der russische Jet sei von F-16-Kampfflugzeugen einen Kilometer innerhalb syrischen Luftraums abgeschossen worden und etwa vier Kilometer von der Grenze entfernt auf syrischem Gebiet abgestürzt, sagte Putin. Das russische Flugzeug habe keine Gefahr für die Türkei dargestellt.

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„Das tragische Ereignis wird ernsthafte Auswirkungen auf die russisch-türkischen Beziehungen haben“, sagte Putin. „Wir werden niemals dulden, dass solche Verbrechen wie das heutige begangen werden.“ Nach Angaben der Nachrichtenagentur TASS wurde der türkische Militärattache in Moskau ins Außenministerium zitiert. Ankara wiederum bestellte laut einem türkischen Regierungsangehörigen den Geschäftsträger der russischen Botschaft ins Außenministerium.

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Der brennende Jet stürzte auf syrischem Gebiet ab
Syrien wirft Türkei Souveränitätsverletzung vor
Nach dem Abschuss des russischen Kampfjets im Nordwesten Syriens warf das Regime in Damaskus der Türkei eine Verletzung seiner Souveränität vor. Die Türkei habe über syrischem Boden ein befreundetes russisches Flugzeug abgeschossen, das von einem Einsatz gegen die IS-Terrormiliz zurückgekehrt sei, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur SANA am Dienstag eine nicht näher genannte Armeequelle.

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Mehrere TV-Sender präsentierten Flugaufzeichnungen des türkischen Militärs, auf denen die Luftraumverletzung zu sehen sein soll
Die türkische Regierung stehe an der Seite des Terrorismus und unterstütze ihn in jeder Form, hieß es weiter. Die „verzweifelten feindlichen Handlungen“ würden aber Syriens Entschlossenheit steigern, den Kampf gegen Terrororganisationen fortzusetzen.
Aufruf zur Besonnenheit
UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte nach dem Abschuss des russischen Kampfjets laut Angaben seines Sprechers eine „glaubwürdige und sorgfältige“ Untersuchung des Zwischenfalls. Außerdem müssten „dringende Maßnahmen zur Beruhigung der Spannungen“ ergriffen werden. EU-Ratspräsident Donald Tusk rief zur Besonnenheit auf. „In diesem gefährlichen Moment nach dem Abschuss eines russischen Jets sollten alle einen kühlen Kopf behalten und die Ruhe bewahren“, schrieb Tusk am Dienstag auf Twitter.
Unklarheit über Schicksal der Piloten
Unterschiedliche Informationen gibt es über die Piloten des abgeschossenen Jets. Laut Angaben aus türkischen Regierungskreisen sind sie vermutlich noch am Leben. Offenbar seien sie in der Gewalt syrischer Aufständischer, erfuhr die Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag von einem Insider. „Unsere Leute arbeiten daran, sie wohlbehalten von den Rebellen überstellt zu bekommen.“
Einer der beiden Piloten ist hingegen nach Angaben des russischen Generalstabs nach seiner Landung mit dem Fallschirm getötet worden. General Sergej Rudskoj sagte am Dienstag im russischen Fernsehen, gestützt auf „vorläufige Informationen“, der Pilot sei am Fallschirm abgesprungen und vom Boden aus beschossen und tödlich getroffen worden. Rudskoj zufolge versuchte die Besatzung von zwei Militärhubschraubern die beiden Piloten zu bergen. Dabei sei ein Hubschrauber beschossen und zur Landung gezwungen worden. Bei dem fehlgeschlagenen Bergungsversuch sei auch ein russischer Soldat getötet worden.

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Die Piloten konnten offenbar die Fallschirme öffnen
Nach Angaben syrischer Rebellen hingegen sind beide Piloten tot. Turkmenische Kräfte hätten die beiden Männer erschossen, sagte der Vizekommandant der verantwortlichen Rebellengruppe, Alpaslan Celik, am Dienstag nahe dem Ort Jamadi in Syrien zu Journalisten. Das Flugzeug stürzte nahe Jamadi ab. In einem von syrischen Oppositionsgruppen verbreiteten Video ist zu sehen, wie sich die Piloten per Schleudersitz aus der Maschine retten. „Unsere Kameraden eröffneten das Feuer auf sie, und sie starben in der Luft“, so Celik. Zum Beweis zeigte er angebliche Stücke des Fallschirms der Piloten.
Lawrow sagt Türkei-Besuch ab
Russlands Außenminister Sergej Lawrow kündigte am Dienstag an, dass er sich wegen der „wachsenden terroristischen Gefahr“ in der Türkei entschieden habe, sein für Mittwoch vorgesehenes Treffen mit dem türkischen Außenminister Feridun Sinirlioglu in Istanbul abzusagen. Auch rate das russische Außenministerium keinem Russen, derzeit die Türkei zu besuchen, hieß es in einer Erklärung von Lawrows Ministerium. Die Terrorgefahr sei in der Türkei nicht geringer als in Ägypten. Deshalb sei davon abzuraten, sich zu Urlaubs- oder anderen Zwecken in die Türkei zu begeben.
Russlands Unterstützung für die syrische Regierung belastet das Verhältnis zwischen Moskau und Ankara. Die Türkei ist ein ausgesprochener Gegner des syrischen Machthabers Baschar al-Assad. Die russische Luftwaffe unterstützt mit ihren Angriffen die syrische Führung. Das türkische Außenministerium hatte wegen russischer Luftangriffe auf turkmenische Rebellen in Syrien erst am Freitag den russischen Botschafter in Ankara einbestellt. Aus Sicht des Ministeriums treffen die Russen mit ihren Luftschlägen nicht Terroristen, sondern Zivilisten. Die Türkei unterstützt die turkmenischen Rebellen, die gegen Assad kämpfen.
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