Europa zerpflückt Schengen-Idee
Die jüngsten Terroranschläge von Paris und ihre Folgen haben eine neue Diskussion über die offenen Grenzen in Europa ausgelöst. Das Schengen-System der nach innen offenen Grenzen steht auf dem Prüfstand, vor allem in Deutschland mehren sich Stimmen, Schengen zumindest vorübergehend außer Kraft zu setzen.
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Die offenen Grenzen in Europa stellten derzeit das größte Sicherheitsrisiko dar. Das sagte der ehemalige Chef des deutschen Bundesnachrichtendienstes, August Hanning, zuletzt in der ZIB2. Europas Innenminister wollen am Freitag jedenfalls in Brüssel die Verschärfung der Grenzkontrollen an den Außengrenzen des Schengen-Gebietes beschließen. Das geht aus dem Entwurf des Abschlussdokuments ihrer Ratstagung hervor.
Ex-Geheimdienstler Hanning rät zu Grenzsicherung
August Hanning, ehemaliger Präsident des deutschen Bundesnachrichtendiensts, sieht in den offenen Grenzen das momentan größte Risiko für den Import von Terror.
Innerhalb der Staaten seien die Sicherheitsbehörden für die Überwachung zuständig, aber auch funktionierende Grenzkontrollen seien eine entscheidende Komponente, sagte Hanning in der ZIB2. Auf diesem Gebiet habe Europa derzeit ein großes Problem.
Deutsche Debatte über strengere Grenzkontrollen
Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, fordert eine „systematische und akribische“ Kontrolle der deutschen Außengrenzen. Dabei sollten mehr Bundespolizisten eingesetzt werden: „Der Innenminister verbrät seit Wochen Bundespolizisten, indem er sie in Kleiderkammern, Küchen und Bürostuben von Flüchtlingsaufnahmestätten einsetzt.“ Für solche Tätigkeiten sollten lieber Soldaten eingesetzt werden, wie das Verteidigungsministerium das angeboten habe, meinte Wendt.

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Braucht es ein Aussetzen des Schengen-Raums und wieder Grenzkontrollen, etwa zwischen Frankreich und Deutschland?
Bayern hat Verständnis für Vorschlag
Verständnis für den Vorschlag eines „Mini-Schengen-Raumes“ in Europa ohne ständige Grenzkontrollen signalisierte unterdessen Bayerns Innenminister Joachim Hermann (CSU). Als Schengen noch eine kleinere Staatenzahl umfasste, habe es gut funktioniert, sagte Hermann am Freitag. In seiner jetzigen Ausdehnung gelte das nicht mehr, wie der Flüchtlingsstrom zeige. Daher sehe er für den niederländischen Vorschlag eines kleineren Schengen-Raumes aus einer Kerngruppe in Europa um die Benelux-Staaten, Deutschland und Frankreich einen „guten Grund“.
Der deutsche Innenminister Thomas de Maiziere hatte sich am Mittwoch skeptisch zu dieser Idee geäußert. „Unser politisches Ziel muss sein, den Schengen-Raum insgesamt so funktionsfähig wie möglich zu machen“, so de Maiziere. „Alles Weitere wären nur Hilfsüberlegungen.“ Auch laut Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) hat dieses „Gedankenexperiment“ für Österreich keine Priorität.
Für schärfere Kontrollen zu Österreich
Hermann plädierte darüber hinaus dafür, in extremen Bedrohungsfällen die Bundeswehr im Inneren einzusetzen. Die Rechtslage gebe das „in Fällen von katastrophalem Ausmaß“ her. „Das ist zum Beispiel sicherlich möglich, wenn hier ein großer Terroranschlag unmittelbar bevorsteht aus Sicht der Sicherheitsbehörden.“ Derzeit gebe es diese Lage aber nicht. Dennoch gelte für ihn: „Wir müssen von den Möglichkeiten Gebrauch machen.“ Das Instrumentarium dafür gebe es jedenfalls.
Der CSU-Politiker forderte zudem schärfere Kontrollen an den Grenzen, etwa jenen zu Österreich. „Wir müssen die Kontrollen intensivieren“, sagte er. Darüber sei er mit de Maiziere im Gespräch. „Wir, denke ich, werden uns jetzt sehr kurzfristig darauf verständigen, dass die Kontrollen der deutschen Bundespolizei an der Grenze zu Österreich verstärkt werden.“
Hauptverdächtiger war im Schengen-Info-System
Der als einer der Haupttäter des Pariser Terrors Verdächtige Salah Abdeslam war von belgischen Behörden an seinem Wohnort Brüssel schon im September in das offizielle Fahndungsregister der EU eingetragen worden. Das belgische Innenministerium teilte am Mittwoch mit, Abdeslam habe einen Vermerk wegen „krimineller Aktivitäten“ im Schengen-Informations-System (SIS) gehabt.
In diese zentrale Fahndungsliste tragen alle Polizeibehörden der Staaten, die nach dem Vertrag von Schengen keine internen Grenzkontrollen mehr haben, Personen ein, die gesucht, vermisst oder als gefährlich angesehen werden. Auf das SIS können dann alle Polizeibeamten im Inland und Grenzbeamte an den Schengen-Außengrenzen zugreifen, sofern sie über die mobilen Abrufgeräte für SIS verfügen.
Abdeslam wurde dann tatsächlich in Österreich im September in seinem Fahrzeug kontrolliert und erkannt, aber nicht festgehalten. Nach Angaben der österreichischen Polizei hatte sich der Mann zuvor in Deutschland aufgehalten. Die belgischen Behörden wurden über die Reise Abdeslams informiert. Es geschah offenbar nichts. In Frankreich wurde der mutmaßliche Terrorist nach den Anschlägen in Paris noch Samstagfrüh an der Grenze zu Belgien kontrolliert. Ob dabei eine Abfrage in der Schengen-Fahndungsliste unternommen wurde, ist nicht klar.
„Mehr Austausch nötig“
Diese Vorgänge zeigen nach Ansicht des für innere Sicherheit zuständigen EU-Kommissars Dimitris Avramopoulos, dass etwas nicht stimmt bei der Anwendung der Kontrollmechanismen im Schengen-Raum. „Die Mitgliedsstaaten müssen Informationen viel effektiver austauschen als bisher und die Werkzeuge, die in der Schengen-Zone heute schon existieren, viel besser nutzen“, forderte Avramopoulos vor Journalisten in Brüssel.

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EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos: Nicht Schengen zum Problem erklären
„Das Problem ist nicht Schengen, sondern die Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten“, sagte er mit Blick auf Forderungen aus Frankreich, die Grenzkontrollen innerhalb der Schengen-Zone zu verschärfen.
Nächste Schritte könnten am Freitag folgen
Die Passkontrollen an den Außengrenzen des Schengen-Raumes sollen nach den Vorstellungen der EU-Innenminister verschärft werden. Das sieht der Entwurf des Abschlussdokuments ihrer Tagung am Freitag vor.
Derzeit werden die Pässe an den Außengrenzen des Schengen-Raumes einer Sichtkontrolle unterzogen. Künftig sollen sie auch mit den Datenbanken von Polizei und anderen Sicherheitsbehörden abgeglichen werden.
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