Frühere „Bildungshochburg“ in Trümmern
Von den 708.000 syrischen Kindern im Pflichtschulalter bekommen derzeit nur 212.000 Unterricht. Rund eine halbe Million sei drauf und dran, den Weg zu Bildung und den damit verbundenen Zukunftschancen für immer zu verpassen, schreibt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in einem aufrüttelnden Dossier unter dem Titel „Wenn ich mir meine Zukunft vorstelle, sehe ich nichts“.
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Der Titel des Dossiers ist ein Zitat aus einem der vielen Einzelfallbeispiele, die HRW neben bisher unbekanntem aktuellem Zahlenmaterial auflistet, etwa das Schicksal des elfjährigen Radwan: „Ich habe die Schule geliebt, ich habe so gerne Mathematik gelernt und ich vermisse die Schule sehr“, wird er dort zitiert. Heute arbeitet er Zwölfstundenschichten in einer Näherei in der Türkei, um seine verwitwete Mutter zu unterstützen.
Geldmangel und bürokratische Hürden obendrein
400.000 der Kinder halten sich als Flüchtlinge in der Türkei auf. HRW verschweigt dabei nicht die Bemühungen des türkischen Bildungsministeriums, die Kinder in das Schulsystem einzugliedern. Die umfassende Gewährleistung von Bildung scheitert einerseits am Geld, andererseits aber auch an bürokratischen Hürden. Viele Kinder, die dem Unterricht auf Türkisch sogar folgen könnten, bekommen laut dem Report nicht die nötigen Zulassungen.
In den meisten Fällen scheitert der Unterricht an Sprachbarrieren. Unterstützung für Arabisch sprechende Kinder im Unterricht gibt es abgesehen von ein paar Vorzeigeprojekten nicht. Eigeninitiative wird großteils unmöglich gemacht. Freie Schulen, die sich bilden wollen, bekommen nicht die nötigen Zulassungen. Darüber hinaus müssen die weitaus meisten Kinder durch Arbeit vor allem im Textilgewerbe für ihren eigenen Unterhalt aufkommen.
Insgesamt drei Millionen aus dem System gekippt
Der Weg dieser Generation ohne Bildung ist laut HRW vorgezeichnet: Die Kinder würden entweder „auf der Straße landen, nach Syrien zurückgehen und im Kampf sterben, zu Extremisten radikalisiert oder bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, im Ozean sterben“, warnt HRW. Problematisch ist vor allem, dass immer mehr syrische Flüchtlinge sich außerhalb jeglicher staatlicher Einrichtungen in der Türkei befinden. Innerhalb der offiziellen Lager liegt die Unterrichtsquote bei 92 Prozent, außerhalb bei null.
Das Problem ist jedoch noch weit größer: Betrachtet man nicht nur die Gruppe der Schulpflichtigen, sondern auch Bildungswege darüber hinaus, kommt man auf die - auch von der UNICEF als korrekt bestätigte - Zahl von drei Millionen jungen Syrern, die aus dem Bildungssystem gefallen sind. Noch einmal dramatischer wird die Lage dadurch, dass Syrien vor dem Krieg eine der „Bildungshochburgen“ der Region und damit nicht zuletzt auch geopolitisch stabilisierend war.
„Ich habe lesen lernen wirklich gemocht“
Vor dem Krieg hatte Syrien eine Pflichtschulabschlussrate von 92 Prozent. 82 Prozent der Kinder erreichten auch den Abschluss der siebenten und achten Schulstufen, mit einer in der Region nicht vergleichbaren Ausgewogenheit zwischen Mädchen und Buben. Die Türkei selbst müsse bürokratische Barrieren abbauen, fordert HRW. Bei der finanziellen Seite sieht die Organisation vor allem internationale Geldgeber in der Pflicht.
HRW will vor allem das Problembewusstsein im Hinblick auf diese gefährdete Generation stärken, ohne deren Bildung der Aufbau einer syrischen Zukunft kaum möglich sein wird. Auch kleine Schritte würden helfen: Der heute neunjährige Mohammed etwa, der seit drei Jahren keine Schule mehr gesehen hat, wird in dem Bericht mit seinem größten Wunsch nach einem Lesebuch zitiert, damit er sich selbst Lesen und Schreiben beibringen könne, denn er habe „lesen lernen wirklich gemocht.“
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