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Langsamer Abschied hoher EU-Standards?

Mit einfachen Vergleichen lässt sich feststellen, wie unterschiedlich die Rechte der Arbeitnehmer in der EU und den USA sind. „In den USA kann der Arbeitgeber den Arbeitnehmer jederzeit kündigen – ‚for good reason, for bad reason or for no reason‘, wie der Supreme Court sagte“, so Jurist Wolfgang Däubler im Gespräch mit ORF.at, „in den EU-Ländern besteht grundsätzlich ein Kündigungsschutz."

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Auch Gewerkschaften werden zurückgedrängt: Während in Europa Gewerkschaftsstreiks an der Tagesordnung sind, haben es Arbeitnehmer in den USA schwerer, sich zu organisieren. Sie müssen lange Verfahren durchlaufen und Arbeitnehmer für sich gewinnen, damit eine Interessenvertretung überhaupt entstehen kann. „In Europa ist die Bildung einer Gewerkschaft frei, und Betriebsräte zu bilden geht mit Hilfe der Initiative von wenigen Personen“, sagt Däubler.

Es sind Unterschiede wie diese, die TTIP-Kritiker bereits im Vorfeld der am Montag gestarteten elften Verhandlungsrunde auf den Plan riefen. Sie befürchten, dass der europäische Arbeitnehmerschutz durch die mit TTIP angestrebte Annäherung zwischen der EU und den USA auf dem Spiel steht.

Merkel sieht Vorbildwirkung

Während die EU beteuert, es werde sich nichts an dem Arbeitsschutzniveau im europäischen Recht ändern, sieht die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sogar Chancen, hohe Standards im Umwelt und Arbeitsschutz weltweit durchzusetzen. „Dieses Abkommen ist ein Handelsabkommen der Zukunft“, sagte Merkel kürzlich bei einer Veranstaltung in Hamburg. Heute verursachten die abweichenden Normen Milliardenkosten für die Unternehmen. Vereint könnten die beiden größten Wirtschaftsräume auch die Maßstäbe für Länder wie China und Indien durchsetzen.

Die EU kündigte im Vorfeld der Gespräche bereits an, dass beide Partner das Recht haben, den Umwelt- und Sozialschutz nach ihrem Niveau zu gestalten. Mit den Gesprächen wolle die EU vor allem verhindern, dass die USA ihren Umwelt- und Sozialschutz abschwächen, um billiger nach Europa exportieren zu können. Beide sollen sich dazu bekennen, dass sie Firmen nicht anbieten, von ihren Umwelt- oder Sozialregeln Ausnahmen zu machen. Außerdem wolle die EU die USA dazu anhalten, die weltweit geltenden ILO-Kernarbeitsnormen zu Sozialstandards zu ratifizieren.

ILO-Arbeitsnormen nicht ratifiziert

Dass sich die USA zu besseren Arbeitnehmerschutzgesetzen überreden lassen, wollen TTIP-Skeptiker nicht glauben. „Die USA stehen weltweit einsam an der Spitze der Nichtratifizierung der ILO-Normen“, so Werner Rügemer, Publizist und Professor der Universität Köln im Gespräch mit ORF.at. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ist eine Tochterorganisation der UNO und überwacht die internationalen Arbeitsrechtsnormen auf der Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Von den acht ILO-Kernnormen haben die USA lediglich zwei anerkannt, „aber nicht die wichtigsten“, sagt Rügemer: Nicht anerkannt haben die USA das Recht auf arbeitnehmerunabhängigen Zusammenschluss zum Beispiel in Gewerkschaften, das damit verbundene Recht auf Streik, das Recht auf die kollektive Aushandlung von Löhnen, Gehältern und Arbeitsbedingungen, das Recht auf gleichen Lohn für Mann und Frau. Ratifiziert haben die USA die Abschaffung der Zwangsarbeit als Disziplinarmaßnahme und die Abschaffung der schlimmsten Form von Kinderarbeit.

Wettbewerbsnachteil in der Praxis

Selbst wenn die EU die Arbeitsrechte nicht auf direktem Wege verändert, könne eine Marktannäherung durch TTIP in der Praxis den Arbeitnehmerschutz trotzdem verschlechtern, so Däubler: „Es kann die Forderung geben, das US-Niveau zu übernehmen, um so einen Wettbewerbsnachteil zu vermeiden. Auch wenn dies nicht passiert, ergibt sich doch vom Markt her ein Druck, die hier herrschenden Sozialstandards weniger ernst zu nehmen und das Arbeitsrecht zu umgehen.“

Eine Verbesserung arbeitsrechtlicher Standards könne dann extrem schwierig werden, weil sich Investoren in ihren Erwartungen enttäuscht sehen könnten und hohe Schadensersatzforderungen erheben könnten, so der Arbeitsrechtsexperte.

Umweltschützer alarmiert

Das Kapitel „Handel und Entwicklung“, eines von drei Agenden bei den elften Verhandlungsgesprächen, umfasst nicht nur Arbeitsrechte, sondern auch Umweltschutzstandards. Ein Thema ließ TTIP-Kritiker dabei besonders aufhorchen: die Regelung über die Zulassung von Chemikalien. Die deutsche Umweltschutzorganisation BUND bezeichnet in ihrem Papier zum Thema Umweltschutz und TTIP die EU-Basisgesetzgebung für Chemikalien als eine der „fortschrittlichsten der Welt“.

In der EU müssen Hersteller die sichere Verwendung ihrer Stoffe nachweisen. Es gilt das Prinzip: „keine Daten, kein Markt“. In den USA ist es genau umgekehrt. Ein Stoff kann ohne diesen Nachweis auf den Markt. Erst wenn Verbraucherschützer oder andere Personen nachweisen können, dass von dem Stoff eine beträchtliche Gefahr ausgeht, wird dieser wieder vom Markt genommen. In der Folge ist eine große Zahl von Stoffen in der EU verboten, während sie in den USA zugelassen sind.

Giftige Kosmetika

Der BUND fürchtet, dass durch TTIP Kosmetika auf dem europäischen Markt landen, die nach den geltenden Standards verbotene oder gefährliche Chemikalien enthalten. Dasselbe gelte für den Einsatz von Pestiziden in Lebensmitteln, die schwer abbaubar, toxisch oder krebserregend sein können.

In ihrem Positionspapier zum Thema Chemikalien sieht die EU die Lösung in der Zusammenarbeit mit den USA bei der Bewertung und Einstufung von kritischen Chemikalien. Genau hier sieht Ernst Christoph Stolper vom BUND das Problem. „Die europäische Verordnung für die Regelung von Chemikalien (REACH) arbeitet nach ganz anderen Maßstäben, als die amerikanische Verordnung (Toxic Substance Control Act, Anm.). Wie soll man zusammenarbeiten, wenn die Kriterien in der Arbeitsweise ganz unterschiedlichen Richtlinien folgen?“, so Stolper im Gespräch mit ORF.at.

EU in „Erklärungsnot“

Egal, ob Arbeitsrecht oder Umweltschutz – die EU sei in beiden Punkten in Erklärungsnot, sagt Stolper: „Die EU kann nicht zwei Ziele gleichzeitig verfolgen und sagen: Wir wollen keine Handelshemmnisse, aber wir wollen, das alles so bleibt, wie es ist, und weiterhin viele Produkte mit gewissen Stoffen verbieten." Faktisch werde die EU gegenüber den USA unter Druck stehen. Wenn man alles so belassen möchte, wie es ist, dann brauche man am Ende kein Freihandelsabkommen zu machen, so Stolper.

In der aktuellen Verhandlungsrunde zu TTIP in Miami, die am Freitag zu Ende ging, standen neben Arbeitsrecht und Umweltschutz weitere heikle Themen wie Marktzugang und Zölle im Fokus. Eine Einigung steht in vielen Bereichen noch aus. Durch die US-Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr könnten die TTIP-Verhandlungen in weitere Ferne rücken.

Manuela Tomic, ORF.at

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