Die binäre Klassifikation
„Männlich“ oder „weiblich“ - das sieht das Personenstandsgesetz, dessen Wurzeln ins 19. Jahrhundert reichen, vor. Was mit Personen ist, die nicht mit eindeutigen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt kommen, erzählt eine mittlerweile jahrzehntelange Leidensgeschichte, die nicht selten mit gewaltsamen Eingriffen zur Geschlechterkorrektur beginnt. Gender-Studies und die Debatten über Biopolitik mögen eine Haltungsänderung in Elitekreisen bewirkt haben, die Gesetzgebung hinkt hierzulande noch nach.
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20 Kinder pro Jahr werden in Österreich geboren, die nicht eindeutig als männlich oder weiblich zuzuordnen sind. Damit sie in ein Schema passen, hat man sie zugeordnet, also mit „normierenden und angleichenden Interventionen“, wie es im medizinischen Amtsdeutsch heißt, zu Männern oder Frauen gemacht. Global betrachtet ist anzunehmen, dass 1,7 Prozent der Weltbevölkerung intersexuell sind.
In Deutschland stellte der Ethikrat 2012 fest, dass die Situation von intersexuellen Menschen in starkem Maß durch Leidenserfahrungen, Missachtung durch die Medizin, mangelnde Sensibilität des gesellschaftlichen Umfelds, sowie administrative und bürokratische Unkenntnis gekennzeichnet ist. Seit 2013 kann in Deutschland durch eine Gesetzesnovelle im Bundestag die Angabe der Geschlechtseintragung bei der Geburt offengelassen werden. Andere Länder führten einen neutralen Status bei der Angabe des Geschlechts ein - so etwa Australien, wo man seit 2011 „X“ als neutralen Geschlechtsstatus in den Pass eintragen kann.

EM
Juristin Eva Matt fordert eine dringende Entpathologisierung des Themas Intersexualität
„Körperliche Unversehrtheit als oberstes Ziel“
Für die Juristin Eva Matt, Mitbegründerin der österreichischen Plattform Intersex, ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit für Kinder und Jugendliche das oberste Ziel der Arbeit ihres Vereins, wie sie im Gespräch mit ORF.at berichtet. „Wichtig ist vor allem die Entpathologisierung“, sagt Matt, die daran erinnert, dass Intersexualität ja immer noch als Krankheit klassifiziert ist.
Viele Betroffene seien vor allem von den medizinischen Eingriffen ihr Leben lang betroffen, berichtet Matt. „Normierende und angleichende Interventionen an Kindern und Jugendlichen müssen verboten werden“, nennt Matt eine Forderung ihrer Plattform. Wenn, dann sollten Betroffene später das Recht haben, selbst die Entscheidung zu treffen, ob sie medizinische Eingriffe am eigenen Körper wünschen. Und ob sie entsprechende Änderungen im Personenstandsregister vornehmen lassen wollen.
Oftmals eine späte Entdeckung
Matt erklärt, dass man bei der Geburt nicht immer erkenne, ob jemand intersexuell geboren sei. „Oft entdeckt man das erst in der Pubertät“, so Matt. Die späte Entdeckung der intersexuellen Identität thematisiert etwa der mit dem Pulitzerpreis prämierte Roman „Middlesex“ von Jeffrey Eugenides, der auch hierzulande größere Beachtung fand. Auf die Frage, ob Gender-Debatten und die Diskussion über Biopolitik auch zu einer veränderten Haltung im Umgang mit dem Thema Intersexualität geführt hätten, sagt Matt: „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass sie sich verändert hat“ - noch stehe man vor dem Faktum, dass Österreich im rechtlichen wie medizinischen Bereich Handlungsbedarf habe.
Zwischen Norm und Realität
„Nach dem Personenstandsgesetz muss die Frage des Geschlechts beantwortet werden - kann das aus medizinischen Gründen nicht gleich passieren, wird immer wieder nachgefragt“ - bis diese Frage beantwortet und via Eintragung erledigt sei. Man sei in dieser Frage auf den Sachverständigen und damit den Arzt angewiesen. „Ärzte treffen nach Untersuchung, Klassifikation und Expertise die Einschätzung, zu welchem Geschlecht jemand zu zählen ist“ - und in diesem Kontext fänden immer noch medizinische Eingriffe statt.
Hinweis
Von 6. bis 8. November findet in Wien die Intersex Conference über das tabuisierte Thema Interesexualität statt.
Matt, die über die rechtlichen Aspekte und Folgen von Intersexualität dissertiert und als Expertin auch eine Einschätzung für den Deutschen Ethikrat verfasst hat, verweist auf Malta, das innerhalb der EU insofern vorbildlich sei, als man fremdbestimmte medizinische Eingriffe an intersexuell geborenen Kindern komplett verboten habe. Auch beim Personenstandsregister zeige Malta eine erstaunliche Flexibilität. „Die Welt ist bunt und vielfältig“, sagt Matt und konstatiert für die Gegenwart zu viel Erblast des 19. Jahrhunderts: „Unsere Normen sind es noch nicht.“
Gerald Heidegger, ORF.at
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