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Dutzende am Wochenende ertrunken

218.000: So viele Menschen sind laut dem UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) allein im Oktober über das Mittelmeer nach Europa geflüchtet - mehr als je in einem Monat zuvor. Die Dimension macht aber vor allem ein weiterer Vergleich deutlich: Im vergangenen Monat wagten etwa so viele Flüchtlinge die Überfahrt wie im gesamten Vorjahr.

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„Das war die höchste Zahl seit dem Ausbruch der Syrien-Krise, die wir je in nur einem Monat verzeichnet haben“, sagte der Sprecher des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), William Spindler, am Montag in Genf. Als Grund für die hohe Zahl nannte Spindler die „sehr generöse Asylpolitik“ Deutschlands. Viele Flüchtlinge hätten sich aus Furcht vor einem demnächst restriktiveren Vorgehen Deutschlands beeilt, noch rechtzeitig nach Europa zu gelangen. Zudem habe sich die Versorgungssituation in Lagern der Nachbarländer Syriens verschlechtert.

Mehrheit über Ägäis

Mittlerweile machen Menschen aus Syrien einen großen Teil der Flüchtlinge aus, was auch zu einer Verlagerung der Fluchtrouten Richtung Osten führte. 2014 begann der Großteil der Flüchtlinge - nämlich mehr als drei Viertel - die Überfahrt noch von der nordafrikanischen Küste nach Italien. Doch in diesem Oktober landeten laut UNHCR nur noch rund 8.000 Flüchtlinge in Italien. Die Menschen versuchen nun von der Westküste der Türkei auf eine der griechischen Inseln - in den meisten Fällen Lesbos - überzusetzen.

Flüchtlinge warten an der Küste auf die Überfahrt

AP/Emre Tazegul

Zwischen Europa und diesen Flüchtlingen in der Türkei liegt das Mittelmeer

Die Mehrheit der Hunderttausenden Flüchtlinge, die in den vergangenen Monaten über die Balkan-Route nach Österreich und Deutschland kamen, hatte zuvor die Ägäis per Boot überwunden. Dieser Weg ist zwar kürzer als die bisher am stärksten frequentierte Route zur italienischen Insel Lampedusa. Dennoch endete auch diese Fahrt für viele Flüchtlinge bereits tödlich.

So stieg in diesem Jahr nicht nur die Zahl der Bootsflüchtlinge auf bisher mehr als 744.000 Menschen, sondern auch die Zahl der Todesopfer. Nach UNO-Angaben kamen in den ersten zehn Monaten 2015 mindestens 3.440 Flüchtlinge im Mittelmeer ums Leben - im gesamten Vorjahr waren es 3.419.

Kälte, Regen, Stürme

Der nahende Winter könnte diese Zahl in den kommenden Monaten noch einmal merklich steigen lassen. Von November bis März ziehen regelmäßig Stürme und starker Regen über das Mittelmeer. Zugleich sinken im Mittelmeer-Raum die Temperaturen im Winter merklich. Die Flüchtlinge sind auf den oftmals kleinen und flachen Booten Wind, Wetter und eben Kälte schutzlos ausgeliefert.

Karte zu wichtigen Flüchtlingsrouten über und rund um das Mittelmeer

Grafik: Map Resources; Quelle: iMap; UNHCR

Besonders dramatisch werde es, wenn Boote auf See kenterten, so der Sprecher der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS), Christian Stipeldey, gegenüber der dpa. „Im Wasser hat man möglicherweise nur wenige Minuten, bis man bewusstlos wird oder bis man Spritzwasser einatmet und über das Spritzwasser, das man in die Lunge eingeatmet hat, innerlich ertrinkt“, sagte Stipeldey.

Flüchtlinge besteigen ein Schlauchboot

AP/Emre Tazegul

Bereits das Besteigen der Boote birgt im hohen Wellengang Gefahren

Doch auch generell sei Spritzwasser eine Gefahr, so der Experte. Viele Flüchtlinge seien stunden- oder tagelang auf flachen Booten unterwegs und atmeten durch die Luft fliegendes Wasser mit der Atemluft ein. Sammle sich das in der Lunge, könne es schnell lebensbedrohlich werden. „Je bewegter das Meer ist, desto mehr Wasser ist in der Luft“, sagte Stipeldey.

Keine alternativen Routen in Aussicht

Zurzeit scheinen sich die schutzsuchenden Menschen von den gefährlichen Bedingungen aber nicht abschrecken zu lassen. An der türkischen Westküste warten noch immer Tausende auf einen Platz in kleinen, oft völlig überfüllten Booten. Angesichts der steigenden Gefahr, wie sie die Todesfälle der vergangenen Tage erneut deutlich machten, mehren sich mittlerweile in Griechenland die Stimmen, die den Flüchtlingen alternative Routen anbieten wollen. Ein geordneter Transport mit Fähren oder eine Öffnung der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei sind im Gespräch.

Letzterem erteilte die griechische Regierung am Sonntag freilich erneut eine Absage. Das sei „in dieser Phase aus technischen Gründen nicht möglich", sagte der für Migration zuständige Vizeminister Ioannis Mouzalas der Athener Zeitung „To Vima“. Athen würde sich damit wohl auch eine Rüge von Staaten wie Österreich und Deutschland einfangen.

Europa schaut in Richtung Türkei

Sie pochen - wie auch zahlreiche andere Politiker in der EU - bereits seit Wochen darauf, dass Griechenland seine Grenzkontrollen verstärkt und die Flüchtlinge nicht mehr nach Mitteleuropa weiterziehen lässt. Zuletzt einigten sich die EU-Staaten mit Athen darauf, dass in Griechenland bis zum Jahresende Aufnahmelager für 30.000 Menschen eingerichtet werden. Zudem sollen 20.000 Flüchtlinge in Wohnungen untergebracht werden. Die Mieten sollen mit EU-Geldern subventioniert werden. Angesichts der aktuellen UNHCR-Statistik verlieren diese Zahlen freilich etwas an Wirkung.

Umso mehr dürfte nach Ansicht der EU dem Land eine Schlüsselrolle zukommen, von dem aus die Flüchtlinge ihre Überfahrt starten. Entsprechend aufmerksam wurde die türkische Parlamentswahl am Sonntag in Europa verfolgt. Und entsprechend wohlwollend fielen die ersten europäischen Reaktionen zum Sieg der islamisch-konservativen AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan aus.

Geht es nach der EU, soll die Türkei den Flüchtlingen aktiv die Überfahrt über die Ägäis verwehren, auch wenn das in offiziellen Stellungnahmen freilich etwas anders formuliert wird. In der Flüchtlingskrise solle jetzt schnell an einer weiteren Kooperation mit der Türkei gearbeitet werden, so eine Sprecherin des deutschen Auswärtigen Amtes am Montag.

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