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„Schwangere Daten“

Es ist kein Zufall, dass jahrelang über die Netzneutralität gestritten worden ist und seit sage und schreibe 2009 um eine neue EU-Datenschutzverordnung gerungen wurde: „Big Data“, das Milliardengeschäft mit persönlichen Daten im Netz, gilt bereits jetzt als Motor für die gesamte Wirtschaft - ähnlich wie Öl in den letzten 100 Jahren.

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Von Google, Amazon, Facebook und den meisten App-Anbietern kennt man das mittlerweile: Es werden ständig Daten abgesaugt - viele von ihnen von den Usern zuerst selbst online gestellt -, die zusammen eine riesige Menge an Informationen ergeben. Und im Internet der Dinge ist jedes Gerät, vom Auto bis hin zum Thermostat in der Wohnung, permanent online und sammelt die Daten ihrer Nutzer.

Die Muster im Datenmeer

Wer diese Daten sammelt und auswertet, kann Profile erstellen, die tief in die Privatsphäre eindringen. Weltweit für Aufsehen sorgte die US-Handelskette Target, die vor drei Jahren einer Jugendlichen Werbung für Babyartikel zusandte - noch bevor deren Angehörige wussten, dass sie schwanger war. Dazu hatte die Auswertung der Einkaufsgewohnheiten des Teenagers und ein Abgleich mit dem generellen Einkaufsverhalten von schwangeren Frauen gereicht.

Und das ist ein vergleichsweise einfaches Beispiel von Profiling. Mit dem Geschäft werden seit Jahren Milliarden verdient. Und immer mehr wollen hier einsteigen. Der Datenhunger und die Gewinnprognosen der Konzerne korrelieren allerdings direkt mit einem anderen Wert: dem Vertrauen der Konsumenten.

„Klick in den Köpfen“

Joe McNamee von der Datenschutz-NGO European Digital Rights (EDRi) zeigt sich im Interview mit ORF.at überzeugt, Big Data als gewinnbringende Industrie habe nur Zukunft, wenn es „Vertrauen und Berechenbarkeit“ gibt. Er vergleicht es mit dem riesigen Vertrauensverlust, den die Finanzindustrie durch den Crash 2008 erlitten habe. Es werde stark dafür lobbyiert, den gesamten Datenbereich möglichst gar nicht zu regulieren - genau wie vor zehn Jahren im Finanzsektor, wo wenig später der Zusammenbruch folgte, der eine weltweite Krise auslöste.

McNamee warnt davor, denselben Fehler, diesmal beim Datenschutz, nochmals zu machen. „Wollen wir, dass dieser Klick in den Köpfen der Menschen passiert und sie anfangen, alle möglichen Arten von Datenverschmutzung anzuwenden? Techniken, die plötzlich auftauchen werden, ja bereits auftauchen?“

Das Datenparadoxon

Der Datenschützer spielt auf eine Verschleierungstaktik (im Englischen wird dafür der Begriff Obfuscation verwendet) an. Verweigerung - also zu verhindern, eine digitale Datenspur zu hinterlassen - ist längst kein praktikabler Weg mehr. Obfuscation geht den entgegengesetzten, auf den ersten Blick paradox wirkenden, Weg: Mittels eigener Programme oder Add-ons werden zusätzlich zu realen Daten permanent gefakte Daten erzeugt, sodass die Überwachung und das Erstellen von Datenprofilen verunmöglicht oder zumindest erschwert wird.

Erst vor Kurzem haben zwei New Yorker Uniprofessoren, Helen Nissenbaum und Finn Brunton, ein Handbuch für digitale Verschleierungstaktiken herausgegeben, das zunehmend auf mediales Interesse stößt. Nissenbaum initiierte auch zwei konkrete Projekte: TrackMeNot verschleiert die Suchgeschichte im Browser, indem es im Hintergrund irgendwelche Suchen generiert; und AdNauseam ist die möglicherweise künftige Form von Werbeblocker: Das Programm unterdrückt die Onlinewerbung nicht, sondern klickt sie im Hintergrund automatisch an, ohne dass man das selbst tun muss.

„Fehlende logische Konsequenz“

McNamees Rat an die Industrie - man könnte freilich auch von Warnung sprechen - lautet daher: „Je mehr Vertrauen wir haben, desto mehr Berechenbarkeit haben wir - und umso uninteressanter wird so etwas.“ Bisher war das Vertrauen - und dabei ist der gigantische Bereich staatlicher Überwachung noch gar nicht berücksichtigt - trotz zahlreicher riesiger Hacks und Datenverluste bei kommerziellen Anbietern beinahe unerschütterlich. Es scheint, dass bisher der Nutzen - etwa Apps zum Nulltarif - für die User überwiegt.

Trotzdem glaubt McNamee nicht, dass insbesondere die jüngere Generation an Datenschutz gar kein Interesse hat. Er ist vielmehr überzeugt, dass das „keine verlorene Schlacht“ sei. Die Menschen hätten allerdings noch nicht die „logische Konsequenz“ aus der Tatsache gezogen, dass ihre Daten „schwanger“ sind und „neue Daten erzeugen“, deren Entstehung sie in keiner Weise beeinflussen könnten und von denen sie meist gar nichts wüssten.

McNamee glaubt, dass dieser Wandel sich aber, wenn erst einmal das Maß voll ist, ganz schnell vor sich gehen wird. Facebook habe etwa ein Patent angemeldet, wonach es die Kreditwürdigkeit einer Person aufgrund seiner Freunde einschätzt. „Wenn das auf den Markt kommt, werden plötzlich alle verstehen, um was es geht“, ist der Datenschützer überzeugt.

„Fundamental für die Unternehmen“

McNamee erhält bei seiner Einschätzung immerhin auch von der Wirtschaft Unterstützung: Ihr ist längst die hohe Bedeutung, die Vertrauenswürdigkeit im großen Datenbusiness spielt, bewusst. Apple etwa wirbt auf seiner Website um das Vertrauen seiner Abonnenten, indem es sich dafür verbürgt, mit den Daten keinen Missbrauch zu betreiben.

Auch Businesseurope, der größte europäische Wirtschaftsdachverband, betont gegenüber ORF.at, dass Vertrauen der User „fundamental für die Unternehmen“ ist, „denn sonst werden sie die Dienste nicht nützen“, so Guido Lobrano von Businesseurope. Daher sei es eine „klare Priorität der Unternehmen“, den Nutzern zu zeigen, dass ihnen diese vertrauen können und dass die Nutzer selbst die Kontrolle über ihre Daten haben. Dieses Prinzip sei klar, schwierig werde es allerdings in der Frage, was das im Detail heiße. Die offene Frage sei, wie viel müsse gesetzlich festgelegt werden und wie viel könne der „bilateralen Entscheidung“ von Usern und Konzernen überlassen bleiben.

Albrecht gegen „Schert mich nicht“

Die Goldgräberstimmung bei der Industrie wird, das ist keine gewagte Prognose, anhalten. Und ob es so schnell „Klick“ in den Köpfen der User macht, ist auch fraglich. Der deutsche Grünen-EU-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht betont gegenüber ORF.at jedenfalls, man sei dem Datenhunger von IT-Konzernen „nicht ausgeliefert, man kann sich schützen“. Er rät zu einfacheren Dingen, wie: in den Einstellungen des Smartphones das Tracking für Werbung auszuschalten oder die Standortdaten nicht permanent freizugeben. Das seien Dinge, die mittlerweile einfach zu machen seien.

Und Albrecht, der im EU-Parlament für die Verhandlungen über die Datenschutzverordnung verantwortlich ist, warnt die User davor, Datenschutz nicht ernst zu nehmen: Es gehe einfach nicht, das anderen zu überlassen. Das wäre, als würde man „jemanden an sein Geld lassen und dann sagen, es schert mich nicht, was sie damit machen.“

Guido Tiefenthaler, ORF.at, aus Brüssel

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