Noch Zigtausende in Zelten
Der Herbst kommt nicht mehr länger, er ist bereits da - und mit ihm kaltes und nasses Wetter. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es auch in tieferen Lagen schneit, in Österreich ebenso wie in Deutschland. Und wie hierzulande kann auch in Deutschland nicht ausgeschlossen werden, dass zahlreiche Flüchtlinge Schnee und Eis noch ohne feste Unterkünfte erleben müssen.
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42.000 Asylwerber leben in Deutschland in Zelten oder zeltähnlichen Unterkünften. Das förderte eine Umfrage der Zeitung „Die Welt“ Mitte Oktober zutage. Rund zwei Wochen später kursiert diese Zahl noch immer durch die deutschen Medien. Denn genauere Zahlen hat niemand.
In Deutschland stellten von Anfang Jänner bis Ende September mehr als 300.000 Menschen einen Asylantrag, 43.000 davon allein im September. Doch die Antragszahlen geben nur einen Teil des Ganzen wieder: Laut der EU-Grenzschutzagentur Frontex reisten von Jahresbeginn bis Mitte Oktober rund 700.000 Flüchtlinge nach Deutschland ein. Viele von ihnen konnten bisher noch keinen Asylantrag stellen, weil die deutschen Behörden mit der Aufnahme und Bearbeitung schlicht nicht nachkommen.
Verteilung nach innerdeutscher Quote
Genau das macht es schwierig, verlässliche Zahlen zur Flüchtlingsunterbringung im gesamten deutschen Bundesgebiet zu bekommen. Dabei ist die Lage bereits wieder übersichtlicher als noch vor einem Monat. Als Österreich und Deutschland Anfang September ihre Grenzen öffneten, verloren die deutschen Behörden nach eigener Aussage zeitweise den Überblick. Tagelang war unklar, wie viele Flüchtlinge tatsächlich ins Land einreisten oder auch wieder ausreisten.
Seit der Einführung von Grenzkontrollen Mitte September versucht Deutschland nun, die Flüchtlinge gleich bei ihrer Einreise zu registrieren und nach der innerdeutschen Quote - dem Königsteiner Schlüssel – auf die Bundesländer zu verteilen. Entscheidend ist dabei neben der Einwohnerzahl auch die Steuerleistung eines Bundeslands. Mit über 21 Prozent steht Nordrhein-Westfalen an der Spitze, während die Hansestadt Bremen - das flächenmäßig kleinste deutsche Bundesland - nicht einmal ein Prozent aller Flüchtlinge aufnehmen muss.
Länder geben Betreuung an Kommunen weiter
Auch wenn die Aufteilung mittlerweile wieder einigermaßen geregelt abläuft, kann es für einen Flüchtling nach seiner Ankunft in Deutschland noch Tage und Wochen dauern, bis er tatsächlich einen Asylantrag stellen kann. Wohnen müssen die Menschen natürlich dennoch irgendwo - rund 40.000 von ihnen nach wie vor in Zelten und anderen nicht winterfesten Quartieren.

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Im Winter wird diese behelfsmäßige Heizung nicht mehr reichen
Noch nicht mitgerechnet sind in dieser Zahl die Flüchtlinge, deren Betreuung die Bundesländer an ihre Kommunen weitergebeben haben. Das betrifft in fast allen Ländern jene Asylwerber, die bereits länger als drei Monate in Deutschland registriert sind und nicht mehr in Erstaufnahmelagern wohnen. Wie viele Schutzsuchende die Kommunen noch in Zelten untergebracht haben, konnten die Länder der „Welt“ nicht sagen. Es dürften aber noch einige tausend sein: allein die Stadt Essen in Nordrhein-Westfalen hatte laut der Tageszeitung Mitte Oktober noch 800 Menschen in „zeltähnlichen Bauten“ untergebracht.
Reformpaket verspricht Entlastungen
Entlastung für die deutschen Kommunen verspricht das am Wochenende in Kraft getretene Reformpaket zum Asylrecht. Dafür sollen einerseits Asylverschärfungen sorgen. So werden Albanien, das Kosovo und Montenegro nunmehr als „sichere Drittstaaten“ eingestuft. Asylwerber aus diesen Ländern haben somit von vornherein kaum bis gar keine Chance auf Asyl in Deutschland. Und anders als bisher sollen sie während ihres gesamten Asylverfahrens in den Erstaufnahmestellen der Länder bleiben. Generell wurde für alle Schutzsuchenden die Zeit in der Erstunterbringung der Bundesländer von drei auf sechs Monate ausgeweitet.

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Flüchtlingsunterkünfte sollen nun leichter und schneller errichtet werden
Das Reformpaket soll zugleich dabei helfen, dass in der Erstunterbringung bis zum Winter die Zelte Geschichte sind. Bürokratische Hürden, die bisher die Einrichtung neuer Asylunterkünfte erschwert hätten, würden aus der Welt geschafft, so die deutsche Regierung. So sehe das Gesetz etwa auch „eine Änderung des Baurechts vor, die es erlaubt, praktisch überall vorübergehende Unterkünfte wie Wohncontainer aufzustellen – frei nach der Devise: Not kennt kein Gebot“, sagte der Staatsrechtler Ulrich Battis Anfang Oktober zum deutschen Magazin „Der Spiegel“.
Container werden knapp und teuer
Doch gerade bei der Errichtung von Containerdörfern waren bürokratische Hürden bisher nicht das einzige Problem. Wie deutsche Medien berichteten, kommen die Containerhersteller den Aufträgen der Bundesländer kaum noch nach. Bis zu acht Monate betrage die Lieferzeit für Wohncontainer, so der Norddeutsche Rundfunk (NDR) Anfang Oktober.
Zugleich seien die Preise für Container teilweise um das Fünffache gestiegen. Das wiederum sei nicht Willkür und Geschäftemacherei geschuldet, sondern liege daran, dass bei einer erhöhten Nachfrage auch für die Produzenten die Kosten stiegen, verteidigten sich die Containerhersteller.
Zelte in Flugzeughangar
Vielerorts sehen sich die Behörden mittlerweile jedenfalls nach kostengünstigeren und schnelleren Alternativen um - und kommen teilweise doch wieder auf Zelte zurück. In einem Hangar am Gelände des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof errichtete die deutsche Bundeswehr in den vergangenen Wochen etwa ein Zeltlager für mehrere hundert Flüchtlinge.

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Ein Hangar in Berlin-Tempelhof wird zur überdachten Zeltstadt
Der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg beschloss darüber hinaus, Flüchtlinge und Obdachlose in leerstehenden Spekulantenwohnungen unterzubringen. Laut dem Antrag der Grünen sollen Wohnungen, „die bekanntermaßen und in größerer Anzahl aus Spekulationsgründen leer stehen“, beschlagnahmt werden können. Ein ähnliches Gesetz hatte bereits Ende September Hamburg erlassen.
Dass es in Berlin tatsächlich zu Beschlagnahmungen kommt, gilt aber als unwahrscheinlich. „Solange wir noch Hangars am Tempelhofer Flughafen frei haben, dürfte es schwierig werden, im Einzelfall eine Wohnung nach Polizeirecht zu beschlagnahmen“, sagte der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzenden in Friedrichshain-Kreuzberg, John Dahl, dem RBB-Radiosender Radio eins.
Winterfeste Zelte als Lösung?
Zugleich ist in deutschen Medien vermehrt von winterfesten Zelten zu lesen. Seien es beheizbare Traglufthallen, wie sie das Unternehmen Paranet mit seinem „Care Dome“ anbietet, oder Hallen aus Zeltstoff, wie sie gerade im brandenburgischen Eisenhüttenstadt aufgestellt werden. 60 Menschen sollen in einem solchen Zelt Platz finden, aufgeteilt auf zwölf Zimmer zu je fünf Personen. Eine Ölheizung soll den Innenraum beständig auf Wohntemperatur halten.

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Beheizte Traglufthallen sollen auch im Winter einsetzbar sein
Energiesparend sind solche Konstruktionen freilich kaum. Doch stehen neben ökologischen auch ganz grundsätzliche Bedenken im Raum. Für eine „Übergangslösung“ werde zu viel Geld ausgegebenen, zitiert die Huffington Post einen Vertreter der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Und Rudolf Seiters, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, hielt gegenüber der „Welt“ fest, „Zelte, auch winterfeste, sind keine dauerhafte menschenwürdige Unterbringung“.
Angst vor Flüchtlingsdörfern
Dass die deutschen Behörden dennoch vermehrt auf winterfeste Zelte setzen, mag neben Zeit- und Kostendruck aber noch einen anderen Grund haben. Dürften sich temporäre Unterkünfte wie Zelte der Bevölkerung doch leichter verkaufen lassen als feste und dauerhafte Quartiere. Das mussten zuletzt die Behörden in Hamburg feststellen.
Im Neubaugebiet Neugraben-Fischbek wollte die Stadt feste Unterkünfte für bis zu 3.000 Flüchtlinge errichten – in Pavillonhäusern und Modulbauten: ein „kleiner Stadtteil im Stadtteil“, erklärte Thomas Völsch, der Leiter des Bezirksamtes Hamburg-Harburg bei der Vorstellung der Pläne im September. Doch genau damit haben viele Bewohner des Viertels ein Problem. Rund 4.000 von ihnen protestierten am Sonntag gegen das Flüchtlingsdorf, das laut den Initiatoren des Protests für „sozialen Sprengstoff“ sorgen werde.
Hunderte Angriffe auf Flüchtlingsheime
Maximal 1.500 Flüchtlinge sollten nach Neugraben-Fischbek kommen, so die Forderung der Bürgerinitiative „Nein zur Politik - Ja zur Hilfe“. Die zuständigen Politiker wollen nun noch einmal mit den Anwohnern sprechen. Die wünschen sich „runde Tische“, an denen sie mitreden dürfen. Noch haben beide Seiten eine gemeinsame Lösung nicht abgeschrieben - und für eine solche ist zurzeit in Deutschland wohl fast jeder dankbar.
Schließlich hat die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsheime in diesem Jahr einen historischen Höchststand erreicht. Über 500 Gewaltakte gegen Asylunterkünfte verzeichnete das deutsche Bundeskriminalamt von Jänner bis September 2015. Und noch etwas fiel den Ermittlern auf: Drei Viertel der Angreifer hatten laut BKA bis dahin noch keinen Kontakt zur rechten Szene.
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