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Ehemaliger Hoffnungsträger des Westens

Seit Mustafa Kemal Atatürk hat die Türkei keinen mächtigeren Politiker als Präsident Recep Tayyip Erdogan hervorgebracht. Fest steht: Niemand polarisiert die moderne Türkei so stark wie er.

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Mit Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel lässt sich der türkische Staatspräsident Erdogan im Istanbuler Yildiz-Palast auf vergoldeten Sesseln ablichten, die an Throne erinnern. Den Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas begrüßt Erdogan in seinem Megapalast in Ankara vor Kriegern in historischen Gewändern, die Vorläuferreiche der Türkei repräsentieren sollen. Erdogan mag aus bescheidenen Verhältnissen stammen, aber prunkvolle Auftritte - und den daraus resultierenden Spott im Internet - scheut er nicht.

Diese Auftritte sind auch eine Demonstration von Erdogans Macht, die seit dem Verlust der absoluten Mehrheit seiner islamisch-konservativen AKP bei der Parlamentswahl im Juni allerdings bedroht wird. Für Erdogan ist das eine ungewohnte Erfahrung. Bisher kannte die Karriere des Ausnahmepolitikers mit der schier unbändigen Energie nur eine Richtung: steil nach oben.

Bürgermeister von Istanbul, Mitgründer der AKP

1994 wurde der aus dem Istanbuler Arbeiter- und Armenviertel Kasimpasa stammende Politiker Bürgermeister seiner Heimatstadt. 2001 gehörte er zu den Mitgründern der AKP, die bereits im Jahr darauf bei der Parlamentswahl die absolute Mehrheit errang. 2003 wurde Erdogan Ministerpräsident - und führte die AKP danach von Wahlsieg zu Wahlsieg. Gekrönt wurde seine Laufbahn im vergangenen Jahr: Nach einer von der AKP angestoßenen Reform wählten die Türken erstmals ihr Staatsoberhaupt direkt. Der Sieger in der ersten Wahlrunde: Erdogan.

Vom Glanz ist wenig geblieben

Jahrelang war Erdogan auch ein Hoffnungsträger des Westens. Er trieb die Demokratisierung der Türkei voran, die wirtschaftlich immer stärker wurde. Die EU nahm Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf. Erdogan stieß einen Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK an. Und während weite Teile der Region im Chaos versanken, schien Erdogan zu beweisen, dass Islam und Demokratie im Nahen Osten kein Widerspruch in sich sein müssen.

Doch vom Glanz ist wenig übrig geblieben. Die regierungskritischen Gezi-Proteste im Sommer 2013 ließ Erdogan niederknüppeln. Die Wirtschaft lahmt, der EU-Beitrittsprozess ist eingefroren. Auf der Rangliste der Pressefreiheit der Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 149 von 180 - auch wenn Erdogan selbst meint, nirgendwo auf der Welt seien Medien so frei wie in der Türkei.

Vorwurf: Erdogan heizt Konflikt mit den Kurden an

Der wieder aufgeflammte Konflikt mit der PKK droht das Land in einen neuen Bürgerkrieg zu stürzen. Kritiker meinen, Erdogan heize diesen Konflikt noch an - statt gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vorzugehen. Mit seiner heimlichen Duldung oder gar Unterstützung des IS, so lautet ein weiterer Vorwurf, habe er zur verheerenden Lage in Syrien und damit zur aktuellen Flüchtlingskrise beigetragen.

International hat Erdogan viel Kredit verspielt, westliche Staats- und Regierungschefs lassen sich kaum noch bei ihm blicken. Dass Merkel ihm jüngst zwei Wochen vor der Wahl ihre Aufwartung machte, war nicht ihrer Sympathie für Erdogan geschuldet - sondern dem Druck, unter dem die Kanzlerin zu Hause in der Flüchtlingskrise steht.

Versprechen von der „neuen Türkei“

Vor allem aber hat Erdogan das Volk zutiefst polarisiert. Bei seinem Amtsantritt als Präsident hatte er eine „neue Türkei“ versprochen und an die Adresse seiner Gegner versöhnliche Signale ausgesandt. „Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen“, sagte er damals. Stattdessen sind die Gräben tiefer denn je.

Nicht nur das AKP-Wahlergebnis vom Juni deutet allerdings darauf hin, dass die Bastion der Erdogan-Anhänger zu bröckeln begonnen haben könnte. Nach einer in diesem Monat veröffentlichten Umfrage des US-Forschungsinstituts Pew aus dem Frühjahr sind Erdogans Sympathiewerte im Sinken begriffen.

Popularität sinkt

2013 äußerten sich noch 62 Prozent der Türken zustimmend zu Erdogan, vor seiner Wahl zum Präsidenten im vergangenen Jahr waren es noch 51 Prozent, was in etwa seinem damaligen Wahlergebnis entspricht. Inzwischen ist die Zustimmung laut Pew auf 39 Prozent gesunken - etwas weniger als das AKP-Ergebnis vom Juni.

Erdogan sagte im August, das türkische Regierungssystem habe sich geändert, „ob es akzeptiert wird oder nicht“. Was er meinte: Als vom Volk gewählter Präsident hat aus seiner Sicht er das Sagen. Erdogan führte damals weiter aus, nun müsse die Verfassung der Realität angepasst werden.

Can Merey, dpa

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