Der lange Atem des Präsidenten
Die Türkei wählt am Sonntag ein neues Parlament. Umfragen zufolge dürfte die islamisch-konservative AKP wie bereits im Juni die absolute Mehrheit verfehlen. Die kemalistische CHP und - etwas überraschend - die Kurdenpartei HDP haben sich bereits als mögliche Koalitionspartner in Stellung gebracht.
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Die prokurdische HDP erklärte sich bereits knappe zwei Wochen vor der Parlamentswahl zu Koalitionsgesprächen mit der regierenden AKP bereit. Die HDP sei offen für Verhandlungen mit der AKP und der größten Oppositionspartei, der CHP, zitierte der Fernsehsender CNN-Türk den Kovorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas.
Sollte es nach den Wahlen wieder auf eine Koalition hinauslaufen, werde die HDP sich mit den beiden Parteien an einen Tisch setzen, so Demirtas. Bisher hatte die HDP eine Zusammenarbeit mit der islamisch-konservativen Regierungspartei abgelehnt.
Kurdenpartei brach Allmacht der AKP
Das starke Abschneiden der HDP ist einer der Hauptgründe für den erneuten Wahlgang am 1. November. Bei der Wahl am 7. Juni hatte die Partei - als erste prokurdische Bewegung in der Geschichte der Türkei - die für den Parlamentseinzug nötige Zehnprozenthürde deutlich übersprungen.
Die islamisch-konservative AKP war hingegen von 49,8 auf 40,9 Prozent abgestürzt und hatte erstmals seit dem Jahr 2002 die absolute Mehrheit verpasst. Eine Koalition mit der Mitte-links Partei CHP (25 Prozent) oder der rechtsnationalen MHP (16 Prozent) kam nicht zustande. Die HDP (13 Prozent) hatte eine Zusammenarbeit mit der AKP schon vor der Wahl ausgeschlossen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan rief letztlich eine Neuwahl aus.
In Meinungsumfragen liegt die AKP derzeit zwischen 40 und 41 Prozent. Damit würden der Partei etwa 14 Parlamentssitze auf die Absolute fehlen. Die HDP dürfte den Einzug ins Parlament erneut souverän schaffen. Die 550 Sitze in der türkischen Nationalversammlung werden je nach Bevölkerungszahl auf die 81 Provinzen der Türkei verteilt. Vergeben werden sie nach einer Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. In der Türkei wahlberechtigt sind 54,1 Mio. Menschen. Hinzu kommen 2,9 Mio. wahlberechtigte Türken, die im Ausland leben.
Angespannte Sicherheitslage
Eines der zentralen Themen im türkischen Wahlkampf ist die Sicherheitslage. Neben dem Wiederaufflammen des Konflikts zwischen türkischen Sicherheitskräften und der verbotenen Arbeiterpartei PKK ist es vor allem der Terror des Islamischen Staates (IS), der in der Türkei für Beunruhigung sorgt.
Anfang Oktober waren bei einem Bombenanschlag auf eine Friedenskundgebung in Ankara mehr als 100 Menschen getötet worden. Laut der türkischen Staatsanwaltschaft war das Attentat direkt von der IS-Führung in Syrien in Auftrag gegeben worden. Ausgeführt habe es eine aus der türkischen Stadt Gaziantep stammende Gruppe. Präsident Erdogan hatte zuvor von einem „kollektiven terroristischen Akt“ gesprochen und den Anschlag dem IS, der PKK, den kurdischen Milizen in Syrien und dem syrischen Geheimdienst gemeinsam zugewiesen.
Eine wichtige Rolle im Wahlkampf spielen auch soziale Themen. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist allen Parteien ein Anliegen. CHP, MHP und HDP versprechen zudem eine - teils deutliche - Anhebung des Mindestlohnes.
Votum über Erdogan
Daneben ist die Wahl auch eine Abstimmung über die Person Erdogan. Der Präsident spalte das Land, schrieb der Politologe Soner Cagaptay jüngst im britischen „Guardian“. „Seine Anhänger würden für ihn sterben, seine Gegner hassen ihn“, so der Leiter des Turkish Research Program des Washington Institute for Near East Policy.
Die Ablehnung rührt auch von Erdogans aggressivem Stil. In der Woche vor der Wahl stürmte die Polizei die Zentrale des regierungskritischen Medienkonzerns Koza-Ipek und übernahm vor laufender Kamera die Kontrolle über die Fernsehsender Kanaltürk und Bugün. Der Sender steht der Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen nahe. Der Geistliche hatte die AKP nach ihrer Gründung Anfang des Jahrtausends zunächst unterstützt, sich später aber mit Erdogan überworfen. Erdogan wirft Gülen Umsturzabsichten vor.
Seit August 2014 wurden mehr als 100 Personen - darunter viele Journalisten - wegen „Beleidigung“ des Präsidenten angezeigt, berichtete die BBC. Im Vormonat wurden die Büros der bekannten Zeitung „Hürriyet“ von der Polizei durchsucht. „Erdogans Kurs wird immer autoritärer“, befand auch der ehemalige AKP-Mandatar Suat Kiniklioglu gegenüber dem britischen TV-Sender.
AKP-Festspiele im TV
Kurz vor der Wahl geriet auch das türkische Staatsfernsehen TRT in die Kritik. Laut einer Erhebung der Rundfunkbehörde RTÜK erhielt die AKP in einem Zeitraum von 25 Tagen 59 Stunden Sendezeit. 30 Stunden davon seien der Partei eingeräumt worden, weitere 29 Präsident Erdogan persönlich. Der größten Oppositionspartei CHP wurden fünf Stunden zugestanden, der MHP eine und der HDP nur 18 Minuten.
Premier ohne „Plan B“
Allen Meinungsumfragen zum Trotz glaubt die AKP fix an das Erreichen der Absoluten. „Wenn es einen ,Plan A‘ gibt, warum sollte ich dann über einen ‚Plan B‘ reden?“, sagte Premierminister Ahmet Davutoglu gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Hinter den Kulissen laufen freilich bereits die Planspiele. Präsident Erdogan soll eine Koalition mit der nationalistischen MHP bevorzugen, berichtete Reuters unter Berufung auf Parteiinsider. Die Mehrheit der AKP-Funktionäre soll wiederum ein Bündnis mit der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP präferieren.
Die CHP ist die älteste Partei der Türkei. Sie wurde im Jahr 1923 von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk persönlich gegründet und verfolgt einen strikt säkularen Kurs. Trotzdem sei eine „AKP-CHP-Koalition derzeit die stärkste Option“, sagte ein CHP-Vertreter gegenüber Reuters. CHP-Parteichef Kemal Kilicdaroglu und Premier Davutoglu hätten bereits im Juni einen „konstruktiven Dialog“ geführt, auch wenn es letztlich nicht zur Regierungsbildung gereicht habe.
Scheitern der Koalition als Chance für die AKP
Erdogan, der laut türkischer Verfassung im Wahlkampf überparteilich agieren sollte, könnte aber auch eine ganz andere Taktik in Hinblick auf mögliche Koalitionen verfolgen. Der Präsident plant seit Längerem, die Türkei in ein Präsidialsystem nach US-Vorbild zu transformieren.
Erreichen ließe sich das Ziel auf zwei Arten: Entweder, die AKP erreicht die Zweidrittelmehrheit im Parlament, was wenig realistisch ist. Oder aber die Partei knackt die 60-Prozent-Hürde. In diesem Fall könnte die Partei das Volk in einem Referendum über eine Verfassungsänderung abstimmen lassen. In diesem Referendum wäre dann nur eine absolute Mehrheit nötig.
Die Verfassungsreform war eines der großen Wahlkampfthemen im Juni. Mittlerweile ist es still geworden um sie. Verworfen haben soll Erdogan seine Pläne aber nicht. Im Gegenteil: AKP-Funktionäre berichteten Reuters, der Präsident spekuliere auf eine brüchige Koalition. „Eine Koalitionsregierung hätte eine Lebensspanne von zwei Jahren“, wird ein Funktionär zitiert. Aus der anschließenden Neuwahl könne die AKP dann wieder als stärkste Kraft hervorgehen - dieses Mal mit absoluter Mehrheit.
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