Rache für vermeintliche IS-Unterstützung?
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) erhebt heftige Vorwürfe gegen die syrische Kurdenmiliz YPG. Ganze Dörfer und Städte seien systematisch zerstört worden. Es handle sich um eine „gezielte und koordinierte Kampagne zur kollektiven Bestrafung“ der Einwohner der zuvor von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) kontrollierten Dörfer.
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Die Zerstörung erfolge laut den Zeugen häufig aus Vergeltung für vermeintliche Unterstützung, Sympathien oder Verbindungen der Menschen zu IS-Mitgliedern oder anderen bewaffneten Gruppen. Vor allem nicht kurdische Bewohner seien vertrieben worden. Nach Angaben der syrischen Kurden handelt es sich um Einzelfälle. Der am Dienstag veröffentlichte Amnesty-Bericht stützt sich auf Dutzende Gespräche mit Zeugen aus den syrischen Provinzen Hassaka und al-Rakka sowie auf Satellitenbilder.
AI: Keine militärische Rechtfertigung
Von Amnesty ausgewerteten Satellitenbildern zufolge wurde beispielsweise das Dorf Husseinija im Nordosten Syriens in der Zeit zwischen Juni 2014 und Juni 2015 zu 94 Prozent zerstört. Ein in dem Bericht zitierter Einwohner Husseinijas beschreibt, dass die Kurdenkämpfer die Menschen aus den Häusern getrieben, die Häuser angezündet und sie eins ums andere mit Planierraupen dem Erdboden gleichgemacht hätten, bis es das Dorf nicht mehr gegeben habe. Die Milizionäre hätten auch damit gedroht, Luftangriffe der US-geführten Allianz anzufordern, sollten die Häuser nicht aufgegeben werden.
AI wirft der von der Kurdenpartei PYD geführten autonomen Verwaltung vor, sie missbrauche ihre Macht. Das missachte das humanitäre Völkerrecht in einer Weise, die Kriegsverbrechen gleichkomme, hieß es. Für die Zerstörungen gebe es keine militärische Rechtfertigung. „In ihrem Kampf gegen den IS trampelt die autonome Verwaltung über die Rechte der Zivilisten, die in der Mitte gefangen sind“, sagte Amnesty-Mitarbeiterin Lama Fakih.
Neues Bündnis mit US-Unterstützung
Die nordsyrischen Kurden gelten als wichtigster Verbündeter im Kampf der USA gegen den IS. Erst kürzlich haben die USA die Militärhilfe für die Miliz verstärkt. Kurdischen Quellen zufolge erhielten die kurdischen Volksschutzeinheiten eine Waffenlieferung aus Washington. Über Art und Umfang gab es keine Angaben. Für die Verteidigung der Grenzstadt Kobane (arabisch: Ain al-Arab) hatte die YPG zuletzt im Herbst vergangenen Jahres Waffen von den USA erhalten.
Am Montag wurde zudem bekannt, dass die Kurden gemeinsam mit mehreren moderaten Gruppen ein neues Militärbündnis namens Allianz Demokratische Kräfte Syriens gegründet haben. Das Bündnis wird von der Allianz westlicher und sunnitisch-arabischer Staaten unterstützt, das unter Führung der USA seit mehr als einem Jahr IS-Ziele in Syrien aus der Luft angreift. Ziel sei es, die nordsyrische Islamistenhochburg al-Rakka zu erobern, so das neu gegründete Militärbündnis.
Eine Attacke auf al-Rakka und den IS könnte bereits binnen der nächsten Wochen stattfinden, so Sipan Hamo, Oberkommandeur der YPG, in einem Interview mit der in London erscheinenden libanesischen Zeitung „Al-Hajat“. Man sei dabei, mit der US-geführten Koalition einen Zeitpunkt für den Start der Operation festzulegen.
Strategiewechsel der USA
Die Allianz und die Waffenhilfe sind das Ergebnis eines amerikanischen Strategiewechsels in der Syrien-Politik. US-Medien hatten berichtet, Washington wolle im Nordosten Syriens eine Truppe von mehr als 20.000 Kurden und bis zu 5.000 Arabern unterstützen. Das Programm zur Ausbildung moderater Rebellen außerhalb Syriens haben die USA nach mehreren Fehlschlägen hingegen aufgegeben. Die Türkei sieht die Allianz der USA mit der YPG jedoch kritisch, weil sie die Bildung eines Kurdenstaates an ihrer Südgrenze befürchtet.
Weitere russische Luftschläge
Russland setzt seine vom Westen kritisierten Luftschläge in Syrien unterdessen fort. Das russische Verteidigungsministerium berichtete am Wochenende über Dutzende neue Angriffe. Mehr als 60 Ziele in den Provinzen Hama, Latakia, Idlib und al-Rakka seien getroffen worden, sagte Generalmajor Igor Konaschenkow am Sonntag. Die USA und die EU werfen Moskau vor, neben dem IS auch gemäßigte Rebellengruppen zu bombardieren. Russland unterstützt damit die Offensive des Regimes des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Die EU fordert ein sofortiges Ende von Luftschlägen gegen die moderate Opposition in Syrien.
Moskau dementiert Angriffe auf Opposition
„Die jüngsten militärischen Angriffe, die nicht auf den IS und andere Terrorgruppen zielen (...), geben Anlass zu tiefer Besorgnis und müssen sofort eingestellt werden“, hieß es in einer Erklärung der EU-Außenminister von Montag. Russland wies die Vorwürfe der EU-Staaten erneut zurück. „Alle wissen schon lange sehr gut, dass Russland den IS und andere Terrororganisationen bombardiert und nicht die Opposition“, betonte Vizeaußenminister Alexej Meschkow der Agentur Interfax zufolge.
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) wurde in Syrien auch hochentwickelte russische Streumunition eingesetzt. Hinweise darauf seien in dem Dorf Kafr Halab nahe Aleppo nach einem Luftangriff vor einer Woche gefunden worden, teilte HRW am Sonntag mit. Unklar sei noch, ob die Munition von russischen oder syrischen Einheiten eingesetzt wurde.
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