„Bild einer Utopie schaffen und pflegen“
Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) unterhält offenbar eine ziemliche Public-Relations-Maschinerie. Diese habe binnen vier Wochen Hunderte Berichte, Videos und Audiospots produziert, heißt es in einer aktuellen Studie. Das Ziel: den IS nicht als Terrorregime, sondern als funktionierende, gewachsene „Nation“ zu zeigen.
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Mehr als die Hälfte der Berichte, an die 470, drehte sich um ziviles Leben und Staatswesen, heißt es in dem Bericht, erstellt vom antiislamistischen Thinktank Quilliam Foundation. Die Berichte würden in Sozialen Netzwerken vorgeschoben, um zu verhindern, dass dort IS-Kanäle abgedreht werden. Die Quilliam Foundation mit Hauptsitz in London ist eine Art Aussteigerorganisation aus der islamistischen Szene.
Dutzende „Medienstandorte“
Der IS betreibe etwa 40 „Medienstandorte“ in den von ihm kontrollierten Gebieten im Irak und in Syrien. Es werde gewöhnlich auf Arabisch produziert, um aber auch die westliche Welt zu erreichen, würden viele Inhalte auch ins Englische und in andere Fremdsprachen übersetzt.
Die Quilliam Foundation hatte laut einem Bericht der britischen BBC einen Monat lang alle im Internet gefundenen Publikationen, die der Terrormiliz eindeutig zuzuordnen waren, analysiert. Insgesamt seien das an die 900 Nachrichten gewesen, die sich jeweils um ein „Kernpropagandathema“ wie Krieg, Brutalität, Opfer, Gnade, Zugehörigkeit zum IS und ziviles Leben gedreht hätten.
Funktionierende Strukturen vorgespielt
„Das hauptsächliche Narrativ“, die Erzählung dahinter, „hat sich zugunsten der Opferrolle, des Krieges und der Utopie verändert“, sagte der Autor der Studie, Charlie Winter. Das Thema Brutalität etwa sei nach wie vor da, aber nicht mehr so oft präsent. „Staatlichkeit“ wolle der IS vermitteln, indem er zu zeigen versuche, dass er die von ihm gehaltenen Gebiete verwalten könne - Beispiele funktionierender öffentlicher Leistungen und regionaler Wirtschaft inklusive.
Indem die Extremistenmiliz „jede Facette des Lebens im ‚Kalifat‘ - von Abhandlungen über den Schleier und Märtyrer bis zur Melonenzucht“ - präsentiere, „können die Propagandisten des Islamischen Staates ein umfassendes Bild der Utopie schaffen und pflegen“.
Was lockt die Anhänger an?
In der Verbreitung seiner Botschaften über Soziale Netzwerke habe der IS, nachdem Kanäle von Internetprovidern blockiert worden seien, seine Strategie auch technisch geändert. Es würden spezielle Hashtags, Schlagworte und Suchbegriffe verwendet, um Inhalte zu transportieren.
In einem ausführlicheren, ebenfalls von der BBC veröffentlichten Bericht über die Studie erklärt Winter auch, was der Grund für seine Recherche war: Er habe sich die Frage gestellt, was das „Kalifat“ zum Anziehungspunkt mache, wenn es nicht seine Brutalität alleine sein soll: „Was ist mit den Tausenden zivilen Männern, Frauen und Mädchen, die ihr Zuhause für das sogenannte Kalifat verlassen?“ Die Antwort gibt er schon im Untertitel zu dem Artikel: Der IS würde seine Mitglieder auch auf sehr subtile Weise ködern.
Analyse der „Medienarbeit“
Also habe er zwischen Mitte Juli und Mitte August die „Medienarbeit“ der Terrormiliz analysiert. Was er gefunden habe, habe ihn schockiert, aber diesmal nicht der Brutalität der Inhalte wegen. Er habe beinahe 1.150 Nachrichten entdeckt, viel davon auch ins Kurdische, Englische, Französische übersetzt. Die Inhalte seien noch dazu ziemlich gut gemacht gewesen, „bis ins Detail“. Das „Niveau“ der Propaganda habe nicht nur ihn selbst, sondern auch den früheren Direktor des US-amerikanischen Center for Strategic Counterterrorism Communications (CSCC), Alberto Fernandez, überrascht.
Zwei Strategien
In den Beiträgen - Audio, Video, Text - würden nicht nur militärische Erfolge gezeigt, immer wieder tauchten auch die Themen soziale Gerechtigkeit, Wirtschaft, religiöse „Reinheit“ auf. Berichte zeigten IS-Militärtraining genauso wie die Weintraubenernte, Straßenarbeiten wie das Verbrennen beschlagnahmter Zigaretten. Immer wieder habe ihn überrascht, dass die gewohnte Brutalität über weite Strecken fehlte, schrieb der Studienautor. Das mag daran gelegen sein, dass sein Beobachtungszeitraum die Wochen nach dem Fastenmonat Ramadan ab dem Opferfest Id al-Fitr umfasste und die Propagandisten des IS da besonders auf „Idylle“ setzten.
Ganz gefehlt hätten aber auch die gewohnten immens brutalen Inhalte nicht, wenn sie auch in den Hintergrund traten. Auf einem Video ist die „Bestrafung“ eines Mannes, dem Homosexualität vorgeworfen wurde, zu sehen: Er wird von einem Dach geworfen und zu Tode gesteinigt. „Verräter“ werden enthauptet, ein Soldat der syrischen Armee wird in den Rücken geschossen und von einer Klippe geworfen. „Botschaften“ wie diese richteten sich an mögliche Abweichler, die in den IS-kontrollierten Gebieten leben - Abschreckung für sie, Idylle und Utopie für die Anwerbung im Westen.
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