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Schwerwiegende Vorwürfe gegen Erdogan

Nach dem Anschlag in Ankara mit offiziell 95 Toten hat Ministerpräsident Ahmet Davutoglu eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. Die Vereinten Nationen nennen den Anschlag „feige und sinnlos“. Die Tat Unbekannter könnte den Konflikt zwischen Regierung und verbotener Arbeiterpartei PKK weiter anheizen - und das drei Wochen vor Neuwahlen.

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Laut der prokurdischen Partei HDP stieg die Zahl der Toten bereits auf über 120. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon und der Präsident der UNO-Vollversammlung, Mogens Lykketoft, sprachen der Türkei nach dem Doppelanschlag ihr Mitgefühl aus. Ban drückte in der Nacht auf Sonntag über einen UNO-Sprecher zugleich die Hoffnung aus, dass die Täter schnell ergriffen und zur Rechenschaft gezogen würden.

Lykketoft nannte die Bombenanschläge, bei denen während einer Friedensdemonstration in der türkischen Hauptstadt am Samstag mindestens 95 Menschen getötet und fast 250 verletzt worden waren, eine „feige und sinnlose Tat“. Sie werde aber „Menschen und Länder nicht davon abhalten, sich für eine friedlichere, harmonische und nachhaltige Welt einzusetzen“, sagte er.

HDP sieht sich als Anschlagsziel

Zu der Tat bekannte sich zunächst niemand. Der Anschlag war der schwerste in der jüngeren Geschichte der Türkei. In dem Land stehen in drei Wochen Neuwahlen für das Parlament an. Davutoglu zufolge wurde der Anschlag wahrscheinlich von zwei Selbstmordattentätern verübt. Er verdächtigte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und zwei linksextremistische Terrorgruppen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan versprach eine Aufklärung des Attentats.

Trauernde Angehörige

AP/Depo Photos

Die Trauer nach dem verheerenden Anschlag in Ankara ist groß

Zu der Demonstration hatten die HDP und andere regierungskritische Gruppen aufgerufen. Die HDP sah sich als Ziel des Anschlags und machte der politischen Führung des Landes schwere Vorwürfe. Ein HDP-Funktionär, der anonym bleiben wollte, sagte der Deutschen Presse-Agentur, die Führung des Landes habe den Anschlag „entweder organisiert oder nicht verhindert“. Die Verdächtigungen Davutoglus nannte er „Unsinn“. Möglicherweise wolle die Regierung den Anschlag dazu nutzen, die für den 1. November geplante Neuwahl abzusagen.

Die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete am Samstagabend unter Berufung auf Polizeikreise, die in Ankara verwendeten Sprengsätze glichen jener Bombe, mit der ein Selbstmordattentäter im Juli mehr als 30 Menschen in der Stadt Suruc an der syrischen Grenze getötet hatte. Für den Anschlag von Suruc hatte die türkische Regierung den IS verantwortlich gemacht.

Proteste in mehreren Städten

In der Millionenmetropole Istanbul demonstrierten am Abend Tausende Menschen gegen die Regierung. In Sprechchören wurde die verbotene kurdische Arbeiterpartei (PKK) zu Vergeltungsaktionen aufgefordert. Internetnutzer berichteten, der Zugang zu Sozialen Medien wie Twitter sei erschwert oder ganz unmöglich. Wie die Nachrichtenagentur Anadolu meldete, wurde die Aussendung von Bildern des Anschlags und des Geschehens danach untersagt. Das Büro des Ministerpräsidenten habe für das Verbot Gründe der öffentlichen Sicherheit vorgebracht.

Demonstration in Istanbul

APA/EPA/Tolga Bozoglu

Tausende Regierungskritiker gingen im Zentrum von Istanbul auf die Straße

Weitere Demonstrationen fanden nach Angaben der Nachrichtenagentur Dogan in Diyarbakir, Izmir, Batman, Urfa und Van statt. Bei der Kundgebung im vorwiegend von Kurden bewohnten Diyarbakir kam es nach Angaben eines AFP-Fotografen zu Ausschreitungen, die Polizei setzte Tränengas ein.

Auch in mehreren deutschen Städten gingen Hunderte Menschen spontan auf die Straße. Zu prokurdischen Demonstrationen kam es unter anderem in Berlin, Hamburg, Frankfurt/Main und Stuttgart. Die Polizei sprach von einem friedlichen Verlauf der Proteste. Eine spontane Aktion anlässlich des Anschlags in Ankara fand auch in Innsbruck statt - mehr dazu in oesterreich.ORF.at.

„An euren Händen klebt Blut“

Erdogan erklärte zu dem Anschlag: „Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff zutiefst, dessen Ziel die Einheit, Solidarität und der Frieden unseres Landes gewesen ist.“ Der Kovorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, hingegen sagte: „Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk.“

Demonstranten in Ankara mit Explosion im Hintergrund

APA/AFP/DOKUZ 8

Die Explosionen ereigneten sich unweit des Hauptbahnhofs von Ankara

Er fügte an: „Ihr seid Mörder. An euren Händen klebt Blut.“ Demirtas kritisierte, die islamisch-konservative Regierung habe weder den Anschlag auf prokurdische Aktivisten im Juli im südtürkischen Suruc noch den auf eine HDP-Wahlveranstaltung im Juni in der Kurdenmetropole Diyarbakir aufgeklärt.

Obama und EU sagen Unterstützung zu

US-Präsident Barack Obama sprach nach Angaben des Weißen Hauses in einem Telefonat mit Erdogan von einer heimtückischen Attacke und bekräftigte die Solidarität der Amerikaner mit der türkischen Bevölkerung im Kampf gegen Terrorismus.

Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk sicherte der Türkei Unterstützung zu. „Die Europäische Union steht an der Seite der Türkei, ihrer Bürger und der Behörden, wenn es um den Kampf gegen Terrorismus und die Bemühungen um Aussöhnung geht“, ließ er mitteilen.

PKK stellt Angriffe vor Wahl ein

In der Türkei war in den vergangenen Monaten der Konflikt zwischen der Regierung und den kurdischen Rebellen wieder eskaliert. Es gab zahlreiche Anschläge der PKK gegen türkische Soldaten und Polizisten. Die türkische Armee wiederum bombardierte Stellungen der PKK im Nordirak. Die Separatistengruppe wird von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft. Die Regierung wirft der HDP vor, die PKK zu unterstützen.

Bei der Wahl am 7. Juni hatte die HDP überraschend stark abgeschnitten, was die AKP ihre absolute Mehrheit kostete. Erdogan hatte eigentlich auf eine Zweidrittelmehrheit zum Ausbau seiner Machtfülle gehofft. Weil Koalitionsgespräche scheiterten, wurden Neuwahlen für den 1. November ausgerufen. Die PKK selbst rief am Samstag ihre Kämpfer auf, alle Guerillaaktionen in der Türkei auszusetzen. Das solle dabei helfen, eine faire und gerechte Wahl zu ermöglichen.

Die Türkei setzte ihre Angriffe auf PKK-Stellungen am Sonntag hingegen fort. Es seien Verstecke der PKK im Nordirak bombardiert worden, teilten die türkischen Streitkräfte mit. Am Samstag seien zudem 14 PKK-Kämpfer bei Luftschlägen in der südosttürkischen Provinz Diyarbakir getötet worden.

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