Proteste in türkischen Städten
Bei einem Doppelanschlag auf eine Friedensdemonstration von prokurdischen und linken Aktivisten in der türkischen Hauptstadt Ankara sind am Samstag mindestens 95 Menschen getötet und über 200 weitere verletzt worden. Nur wenige Stunden später entbrannten Proteste gegen die Regierung in Istanbul und in mehreren anderen Städten des Landes.
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Die rund 10.000 Demonstranten im Zentrum von Istanbul machten Präsident Recep Tayyip Erdogan für den Anschlag auf die Friedenskundgebung mitverantwortlich. Sie skandierten „Dieb - Mörder - Erdogan“, wie ein dpa-Reporter berichtete. In Sprechchören wurde die verbotene kurdische Arbeiterpartei (PKK) zu Vergeltungsaktionen aufgefordert. „Rache - PKK“, riefen Teilnehmer. Internetnutzer berichteten, der Zugang zu Sozialen Medien wie Twitter sei erschwert oder ganz unmöglich.

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10.000 Regierungskritiker gingen im Zentrum von Istanbul auf die Straße
Weitere Demonstrationen fanden nach Angaben der Nachrichtenagentur Dogan in Diyarbakir, Izmir, Batman, Urfa und Van statt. Bei der Kundgebung im vorwiegend von Kurden bewohnten Diyarbakir kam es nach Angaben eines AFP-Fotografen zu Ausschreitungen, die Polizei setzte Tränengas ein.
Kundgebungen in deutschen Städten
Auch in mehreren deutschen Städten gingen Hunderte Menschen spontan auf die Straße. Zu prokurdischen Demonstrationen kam es unter anderem in Berlin, Hamburg, Frankfurt/Main und Stuttgart. Die Polizei sprach von einem friedlichen Verlauf der Proteste. Eine spontane Aktion anlässlich des Anschlags in Ankara fand auch in Innsbruck statt - mehr dazu in oesterreich.ORF.at.
„An Euren Händen klebt Blut“
Zu der Friedenskundgebung in Ankara, auf die der Doppelanschlag verübt wurde, hatte unter anderem die Kurdenpartei HDP aufgerufen. Deren Kochef Selahattin Demirtas äußerte Zweifel, dass die Regierung von dem Attentat überrascht wurde. Laut HDP richtete sich der Anschlag gegen ihre Mitglieder, die Sprengsätze wurden demnach am Aufmarschplatz der HDP-Delegation bei der geplanten Demonstration gezündet.
„Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk“, sagte Demirtas. „Ihr seid Mörder. An Euren Händen klebt Blut.“ Möglicherweise wolle die von der islamisch-konservativen AKP geführte Regierung den Anschlag dazu nutzen, die für den 1. November geplanten Neuwahlen für das Parlament abzusagen, sagte der HDP-Vertreter.
„PKK, IS und Linksextremisten unter Verdacht“
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu wies das zurück und verdächtigte seinerseits die PKK, die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) und Linksextremisten der DHKP-C, hinter dem Attentat zu stehen. Erdogan erklärte, mit dem Anschlag solle die Gesellschaft gespaltet werden.
Erdogan erklärte: „Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff zutiefst, dessen Ziel die Einheit, Solidarität und der Frieden unseres Landes gewesen ist.“ Erdogan versprach eine Aufklärung des Anschlags, zu dem sich zunächst niemand bekannte. Die Regierung sprach von einem Terrorakt und Hinweisen auf zwei Selbstmordattentäter. Zunächst bekannte sich niemand zu den Taten.
Zwei Explosionen bei Friedensmarsch
Am Vormittag hatten sich in Ankara Demonstranten versammelt, um ein Ende der Gewalt zwischen dem türkischem Militär und kurdischen Militanten zu fordern, als zwei Sprengsätze detonierten. Ein Reuters-Reporter sah am Anschlagsort viele Leichen, die mit Transparenten und Fahnen bedeckt waren. Darunter waren Banner der oppositionellen prokurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP).

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Die Explosionen ereigneten sich unweit des Hauptbahnhofs von Ankara
Der Fernsehsender CNN Türk zeigte Aufnahmen von der Detonation. Zunächst waren tanzende Frauen und Männer zu sehen, die zusammenzuckten, als hinter ihnen eine Explosion aufblitzte. Wie Davutoglus Büro am Samstagabend mitteilte, wurden bei dem Doppelanschlag mindestens 95 Menschen getötet und 246 verletzt. 50 von ihnen lagen demnach noch auf der Intensivstation eines Krankenhauses von Ankara. Die Behörden hatten zuvor von 86 Toten und 186 Verletzten gesprochen.
EU appelliert an türkische Gesellschaft
Spitzenvertreter der EU riefen die türkische Gesellschaft zur Geschlossenheit auf. „Das türkische Volk und alle politischen Kräfte müssen Terroristen und all denjenigen, die das Land zu destabilisieren versuchen, vereint entgegentreten (...)“, schrieben die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und Vizekommissionspräsident Johannes Hahn (ÖVP) in einer gemeinsamen Stellungnahme. Die Türkei sehe sich derzeit vielen Bedrohungen ausgesetzt.
Gleichzeitig sicherten Hahn und Mogherini Unterstützung der EU zu. „Unsere Partnerschaft und unser Willen zur Zusammenarbeit mit den türkischen Behörden und der türkischen Gesellschaft sind stärker denn je - auf allen Ebenen“, schrieben sie. „Wir stehen an der Seite aller Menschen in der Türkei, die zusammenarbeiten, um Gewalt und Terrorismus zu bekämpfen.“
Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach den Opfern am Nachmittag ihr „tief empfundenes Mitgefühl“ aus. „Wenn sich die Hinweise auf terroristische Anschläge bestätigen, dann handelt es sich um besonders feige Akte, die unmittelbar gegen Bürgerrechte, Demokratie und Frieden gerichtet sind.“ Laut Merkel ist es „ein gezielter Anschlag auf den Zusammenhalt der Gesellschaft“.
USA bekräftigten Partnerschaft
Die US-Regierung verurteilte den Anschlag „auf das Schärfste“ und bekräftigte zugleich ihre Entschlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus. „Die Tatsache, dass diese Attacke vor einer geplanten Friedensdemonstration stattfand, unterstreicht die Boshaftigkeit jener, die dahinter stecken, und die Notwendigkeit, dass wir uns den gemeinsamen Herausforderungen bei der Sicherheit in der Region stellen“, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, Ned Price.
Die USA stünden im Kampf gegen die Geißel Terrorismus weiter an der Seite der türkischen Regierung und des türkischen Volkes. „Derartige entsetzliche Gewalttaten werden uns ganz gewiss nicht abschrecken, sondern uns nur in unserer Entschlossenheit bestärken.“
Konflikt mit PKK erneut eskaliert
In der Türkei war in den vergangenen Monaten der Konflikt zwischen der Regierung und den kurdischen Rebellen wieder eskaliert. Es gab zahlreiche Anschläge der PKK gegen türkische Soldaten und Polizisten. Die türkische Armee wiederum bombardierte Stellungen der PKK im Nordirak. Die Separatistengruppe wird von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft. Die Regierung wirft der HDP vor, die PKK zu unterstützen.
Bei der Wahl am 7. Juni hatte die HDP überraschend stark abgeschnitten, was die AKP ihre absolute Mehrheit kostete. Erdogan hatte eigentlich auf eine Zweidrittelmehrheit zum Ausbau der Machtfülle gehofft. Weil Koalitionsgespräche scheiterten, wurden Neuwahlen für den 1. November ausgerufen. Die PKK selbst rief am Samstag ihre Kämpfer auf, alle Guerillaaktionen in der Türkei auszusetzen. Das solle dabei helfen, eine faire und gerechte Wahl zu ermöglichen.
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