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„Barbarischer Angriff“ schockiert Türkei

Vor der Parlamentswahl in der Türkei sind beim schwersten Terroranschlag in der jüngeren Geschichte des Landes mindestens 86 Menschen getötet worden. Bei dem Doppelanschlag auf eine regierungskritische Friedensdemonstration in der Hauptstadt Ankara wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums mindestens 186 Menschen verletzt. Zu der Bluttat kam es drei Wochen vor Neuwahlen für das Parlament.

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Nach Angaben der prokurdischen Partei HDP starben 97 Menschen. Die Explosionen ereigneten sich kurz nach 10.00 Uhr (Ortszeit) an einer Kreuzung unweit des Hauptausgangs des Hauptbahnhofs in Ankara. Ziel des Anschlags waren offenbar Anhänger der Kurdenpartei HDP, die sich laut der Zeitung „Hürriyet“ (Onlineausgabe) vor dem Bahnhof für eine für Mittag geplante Friedenskundgebung versammelt hatten.

Bei der Kundgebung, zu der neben linken Parteien auch Gewerkschaften und Bürgerrechtsgruppen aufgerufen hatten, sollte gegen den anhaltenden Konflikt zwischen Regierungstruppen und Kurden im Südosten der Türkei protestiert werden. Die Veranstalter sagten die Demonstration ab. Zugleich riefen sie zu Blutspenden für die Opfer des Anschlags auf.

Bisher kein Bekennerschreiben aufgetaucht

Die Nachrichtenagentur Anadolu berichtete ohne Angaben von Quellen, es habe sich um einen Selbstmordanschlag gehandelt. Die Angaben wurden von den türkischen Sicherheitskräften zunächst nicht bestätigt. Bisher hat sich niemand zu der Tat bekannt.

Schon direkt nach dem Attentat kam es in Ankara zu wütenden Protesten. Polizisten hätten in die Luft geschossen, um protestierende Demonstranten auseinanderzutreiben, wie ein AFP-Reporter am Samstag aus der türkischen Hauptstadt berichtete. Wütende Demonstranten riefen „Polizei, Mörder!“, bevor sie von der Polizei vertrieben wurden. Auf Bildern waren nach dem Anschlag Leichen zu sehen, die mit Flaggen und Bannern unter anderem der HDP bedeckt waren. Ein Video zeigt, wie junge Demonstranten tanzen, als hinter ihnen eine der Bomben detoniert.

Demoaufrufe via Twitter

Für den Abend wurde über Twitter zu Demonstrationen in mehreren türkischen Städten aufgerufen. Schon am Nachmittag formierte sich ein Protestzug in Istanbul. Rund 2.000 Demonstranten hätten sich in der Innenstadt versammelt, berichtete ein dpa-Reporter. Sie skandierten mit Blick auf Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan „Dieb - Mörder - Erdogan“. In Sprechchören wurde die verbotene kurdische Arbeiterpartei (PKK) zu Vergeltungsaktionen aufgefordert. „Rache - PKK“, riefen Teilnehmer.

Demonstranten in Ankara mit Explosion im Hintergrund

APA/AFP/DOKUZ 8

Die Explosionen ereigneten sich unweit des Hauptbahnhofs von Ankara

Erdogan verurteilt Attentat

Der türkische Präsident verurteilte den Anschlag in einem schriftlichen Statement aufs Schärfste. Er kündigte an, die Hintermänner mit aller Härte verfolgen zu wollen. Der Anschlag habe auf den „Frieden in unserer Nation“ gezielt, so Erdogan. Der Kovorsitzende der prokurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas, sprach nach Angaben der Nachrichtenagentur DHA von einem „barbarischen Angriff“. Es habe sich um ein „großes Massaker“ gehandelt. „Diejenigen, die Frieden wollen, werden ermordet“, so Demirtas auf Twitter.

„Fortsetzung“ von Diyarbakir und Suruc

„Das ist eine Fortsetzung der Art von Anschlägen wie in Diyarbakir und Suruc“, erklärte Demirtas später. Er bezog sich auf den Anschlag auf eine Wahlkampfveranstaltung seiner Partei vor der Parlamentswahl am 7. Juni, bei dem in der südosttürkischen Stadt Diyarbakir vier Menschen getötet wurden, sowie auf den Selbstmordanschlag im südtürkischen Suruc, bei dem im Juli 32 prokurdische Aktivisten getötet wurden.

Demirtas äußerte Zweifel, dass die türkische Regierung von dem Anschlag in Ankara überrascht wurde. „Ist es möglich, dass ein Staat mit so einem starken Geheimdienstnetzwerk im Vorfeld keine Informationen über den Anschlag hatte?“, fragte er.

Davutoglu: „Auch PKK unter Verdacht“

Innenminister Selami Altinok wies die Vorwürfe zurück und erklärte, er könne keine Schwächen der Geheimdienste oder Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit der Gewalttat erkennen. Einen Rücktritt lehnte der Minister ab. Die türkischen Behörden ermitteln der Regierung zufolge in mehrere Richtungen.

Verdächtig seien die PKK, die Extremistenmiliz Islamischer Staat (IS) und die linke DHKP-C, sagte unterdessen Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Es gebe deutliche Hinweise darauf, dass das Attentat von zwei Selbstmordattentätern verübt worden sei. Davutoglu rief eine dreitägige Staatstrauer aus.

EU appelliert an türkische Gesellschaft

Spitzenvertreter der EU riefen die türkische Gesellschaft zur Geschlossenheit auf. „Das türkische Volk und alle politischen Kräfte müssen Terroristen und all denjenigen, die das Land zu destabilisieren versuchen, vereint entgegentreten (...)“, schrieben die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und Vizekommissionspräsident Johannes Hahn (ÖVP) in einer gemeinsamen Stellungnahme. Die Türkei sehe sich derzeit vielen Bedrohungen ausgesetzt.

Gleichzeitig sicherten Hahn und Mogherini Unterstützung der EU zu. „Unsere Partnerschaft und unser Willen zur Zusammenarbeit mit den türkischen Behörden und der türkischen Gesellschaft sind stärker denn je - auf allen Ebenen“, schrieben sie. „Wir stehen an der Seite aller Menschen in der Türkei, die zusammenarbeiten, um Gewalt und Terrorismus zu bekämpfen.“

Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach den Opfern am Nachmittag ihr „tief empfundenes Mitgefühl“ aus. „Wenn sich die Hinweise auf terroristische Anschläge bestätigen, dann handelt es sich um besonders feige Akte, die unmittelbar gegen Bürgerrechte, Demokratie und Frieden gerichtet sind.“ Laut Merkel ist es „ein gezielter Anschlag auf den Zusammenhalt der Gesellschaft“.

USA bekräftigten Partnerschaft

Die US-Regierung verurteilte den Anschlag „auf das Schärfste“ und bekräftigte zugleich ihre Entschlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus. „Die Tatsache, dass diese Attacke vor einer geplanten Friedensdemonstration stattfand, unterstreicht die Boshaftigkeit jener, die dahinter stecken, und die Notwendigkeit, dass wir uns den gemeinsamen Herausforderungen bei der Sicherheit in der Region stellen“, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, Ned Price.

Die USA stünden im Kampf gegen die Geißel Terrorismus weiter an der Seite der türkischen Regierung und des türkischen Volkes. „Derartige entsetzliche Gewalttaten werden uns ganz gewiss nicht abschrecken, sondern uns nur in unserer Entschlossenheit bestärken.“

Konflikt mit PKK eskalierte erneut

In der Türkei war in den vergangenen Monaten der Konflikt zwischen der Regierung und den kurdischen Rebellen wieder eskaliert. Es gab zahlreiche Anschläge der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegen türkische Soldaten und Polizisten. Die türkische Armee wiederum bombardierte Stellungen der PKK im Nordirak. Die Separatistengruppe wird von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft. Die islamisch-konservative Regierung wirft der HDP vor, die PKK zu unterstützen.

Am 1. November finden in der Türkei Neuwahlen statt. Bei den regulären Parlamentswahlen am 7. Juni hatte die AKP von Präsident Erdogan ihre absolute Mehrheit verloren.

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