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„Flughafen noch unter Kontrolle“

Montagfrüh haben die radikalislamischen Taliban eine großangelegte Offensive gegen die nordafghanische Stadt Kunduz gestartet - wenige Stunden später verkündeten sie, die Kontrolle über die Stadt übernommen zu haben. Diese Angaben wurden nun auch vom afghanischen Innenministerium bestätigt.

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„Die Stadt ist unglücklicherweise an die Taliban gefallen“, sagte der Sprecher des Ministeriums, Sedik Sedikki, in Kabul. Kurz zuvor hatte bereits der Polizeisprecher der Provinz Kunduz, Sayyed Darwar Hussaini, gesagt, dass vier der fünf Polizeidistrikte der Stadt unter Kontrolle der Taliban seien. Die in den frühen Morgenstunden gestartete Großoffensive sei aber weiter im Gange, die „schweren Kämpfe dauern an“, so Hussaini, dem zufolge die Stadt „aus mehreren Richtungen angegriffen“ wurde.

Den Taliban gelang offenbar ein rascher Vorstoß Richtung Zentrum der Stadt, auf dem Hauptplatz weht seitdem auch die Taliban-Flagge. Nach schweren Gefechten mit afghanischen Regierungstruppen und Sicherheitskräften hätten die Taliban schließlich auch den Sitz der Provinzregierung und das Polizeihauptquartier gestürmt, hieß es.

Afghanische Soldaten

APTN

Afghanische Einsatzkräfte auf einer Straße bei Kunduz

Vizegouverneur Hamdullah Daneshi wurde nach Berichten von Augenzeugen zum Flughafen gebracht, wohin viele der rund 300.000 Bewohner der Stadt geflohen waren. Auch „alle Ausländer sind zum Flughafen“, wie ein Hilfsarbeiter einer Hilfsorganisation laut dpa sagte. Gouverneur Mohammad Omar Safi hielt sich bereits vor dem Angriff der Taliban im Ausland auf.

„Richtung Flughafenhügel“

Der Sitz des Gouverneurs, das Gebäude des Provinzrates und eine Radiostation seien nach Angaben der Taliban in Brand gesetzt worden. Laut Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid sei nach der Eroberung der genannten zentralen Regierungsgebäude „nun ganz Kunduz als erste Hauptstadt einer Provinz unter unserer Kontrolle“. Wie ein Taliban-Kommandeur namens Mullah Usman weiter mitteilte, rücken Taliban-Kämpfer „nun in Richtung des Flughafenhügels vor.“

Der Flughafen ist Sedikki zufolge noch unter der Kontrolle der Regierung. Das Gelände gilt als schwer gesichert, da rund um den Flughafen die afghanischen Sicherheitskräfte gleich mehrere Stützpunkte unterhalten. Am Montag wurden über den Flughafen nun auch erste Verstärkung für die in die Defensive geratenen Regierungstruppen eingeflogen. Die Planung für eine Großoffensive und der erhofften Rückeroberung von Kunduz seien Sedikki zufolge bereits voll im Gange.

Hunderte Gefangene befreit

Von einem weiteren Regierungsvertreter in Kabul wurde am Montag aber auch vor der neuen Schlagkraft der Taliban gewarnt. „Die Taliban haben inzwischen eine eigene schnelle Eingreiftruppe mit 600 Mann in Kunduz und sind sehr gut ausgerüstet.“ Diese Eingreiftruppe - eine solche Einheit unterhalten eigentlich nur hochprofessionelle Armeen - greife bei Gefechten an Brennpunkten in Kunduz ein. Taliban-Angaben zufolge waren über 1.000 Kämpfer an der Großoffensive beteiligt.

Aus Gefängnis befreite Taliban gehen durch eine Straße in Kunduz

AP/Hekmat Aimaq

Die Taliban befreite hunderte Gefangene

Augenzeugenberichten zufolge stürmten die Taliban auch das Provinzkrankenhaus mit seinen 200 Betten. Der britischen BBC zufolge wurde von den Taliban auch ein Gefängnis gestürmt und rund 500 Gefangene, darunter auch etliche Taliban-Mitglieder, befreit. Medienberichten zufolge hätten am Montag die Vereinten Nationen ihr Personal aus Kunduz abgezogen. Das UNO-Gebäude sei danach von den Taliban geplündert worden.

Ehemaliges deutsches Afghanistan-Hauptquartier

Beobachter werten den Taliban-Einmarsch als neuen Meilenstein in dem seit fast 14 Jahren anhaltenden Aufstand der Taliban. Der Angriff auf Kunduz ist der zweite seiner Art in diesem Jahr: Im Juni hatten die afghanischen Streitkräfte den Vorstoß abgewehrt. Der NATO-Kampfeinsatz in Afghanistan endete im Dezember 2014. In Kunduz war bis vor zwei Jahren auch die deutsche Bundeswehr stationiert. Die deutschen Soldaten unterhielten bis zu ihrem Abzug in der Nähe des Flughafens ein großes Feldlager.

Die Bundeswehr war im Rahmen der internationalen Afghanistan-Mission ISAF für die Provinz Kunduz zuständig. Mitte 2012 wurde die Sicherheitsverantwortung schließlich an die afghanische Nationalarmee übergeben. Nach Beendigung des internationalen Kampfeinsatzes im Vorjahr sind NATO-Soldaten fast nur noch als Berater und Ausbildner im Land. Auch die Bundeswehr ist mit bis zu 850 Soldaten weiterhin in Afghanistan vertreten.

Karte zu Afghanistan

Grafik: APA/ORF.at

Wie eine Sprecherin des deutschen Außenministeriums nun sagte, seien die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin „grundsätzlich in der Lage, den Taliban entgegenzutreten“. Bisher sei es ihnen auch gelungen, die Großstädte des Landes unter ihrer Kontrolle zu halten.

Bei der Provinzregierung von Kunduz läuten dennoch seit Monaten die Alarmglocken: Bereits im April warnte Vizegouverneur Daneshi vor einer Eroberung der gesamten Provinz durch die Taliban. Vor rund drei Monaten gelang es Regierungstruppen zwar noch, eine Taliban-Offensive an der Stadtgrenze von Kunduz erfolgreich abzuwehren, in der gleichnamigen Provinz kontrollieren die Taliban seit Juni aber bereits den Distrikt Dasht-e-Arkhie, sechs weitere Distrikte sind seither umkämpft.

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