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Meisterstück eines Übertreibungskünstlers

Kaum ein Kinderbuch hat sich so in Bildgedächtnis und Sprachgebrauch verfestigt wie Wilhelm Buschs „Max und Moritz“. Dabei war die Geschichte rund um die beiden Spitzbuben weniger ein Kinderbuch als eine Abrechnung mit der verfehlten Pädagogik ihrer Zeit und das Manifest einer zutiefst pessimistischen Weltsicht.

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Auch heute weiß noch jedes Kind: Wo Max und Moritz auftauchen, da wächst kein Gras mehr. Erst bringen die selbstzufriedenen Rabauken ohne jede Reue die Hühnerschar der Witwe Bolte ums Leben, dann quälen sie Onkel Fritz, indem sie ihm Maikäfer ins Bett setzen, und letztlich stecken die beiden Übeltäter auch noch den Lehrer Lämpel mit einer manipulierten Meerschaumpfeife in Brand - und das sind lediglich drei der sieben grausamen „Streiche“, mit denen die beiden Buben den Erwachsenen in ihrem Dorf das Leben zur Hölle machen.

Bilderbogen: Max und Moritz (1865)

picturedesk.com/akg-images

Vorbereitung auf den fünften Streich

Ein „Rickeracke“ besiegelt das Ende

Trotz des vorgeblich erhobenen Zeigefingers in Richtung der Buben („Bosheit ist kein Lebenszweck!“) lugt im Verlauf der sieben Streiche fast feixend ihr Schöpfer Busch zwischen den Zeilen hervor. Genussvoll scheint er zu beobachten, wie die Buben die dörflichen Sonderlinge, Spießbürger und Moralapostel, denen der Künstler Zeit seines Lebens Ablehnung entgegenbrachte, auf die Hörner nehmen.

Als dem Müller der Kragen platzt und er Max und Moritz in die Mühle wirft, findet der Raubzug mit dem Tod der Kinder ein jähes Ende. Es macht „Rickeracke“ und von den Buben bleibt nicht mehr als etwas Schrot in Max-und-Moritz-Form. Lakonisch schließt Busch den Kreis zu Witwe Boltes verendeten Hühnern: „Doch sogleich verzehret sie, Meister Müllers Federvieh.“ In einem Nachspiel zeigt die vermeintlich moralisch integre Dorfgemeinschaft mit ihrer Zufriedenheit über den Mord an den beiden Buben ihr wahres Gesicht. Damit fällt die zu dieser Zeit übliche Einteilung zwischen „guten“ Erwachsenen und „bösen“ Kindern.

Fehlstart für Feierlichkeiten

„Ritzeratze, voller Tücke“ verlief heuer der Start der Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag des Werks. Denn der blinde Glaube an die Allwissenheit des Internets hat die 150er-Festspiele in vielen Medien um sechs Monate, konkret auf den 4. April, vorversetzt. Schuld daran: ein falsches Datum in Wikipedia.

Schon 2005 unterlief dem WDR dieser Fehler. Der deutsche Sender beging den 140. Geburtstag der Lausbuben ein halbes Jahr zu früh. Doch Schaden macht eben nicht immer klug, und so haben auch heuer vielerorts die Feierlichkeiten wieder verfrüht gestartet. Zumindest Gudrun Schury, Autorin der Busch-Biografie „Ich wollt, ich wär ein Eskimo“, räumte im März angesichts der sich stapelnden Presseanfragen, mit denen sie plötzlich konfrontiert war, mit dem Irrtum auf und wies auf das tatsächliche Datum der Erstveröffentlichung hin. Da war es aber oft schon zu spät.

Schon 1887 auf Japanisch verfügbar

Tatsächlich erschien die Erstausgabe von „Max und Moritz - Eine Bubengeschichte in sieben Streichen“ erstmals im Oktober des Jahres 1865. Der damals 31-jährige Busch, zu dieser Zeit bereits gescheiterter Kunststudent, aber trotzdem produktiver Karikaturist, verkaufte „Max und Moritz“ samt allen Rechten im zweiten Anlauf an seinen damaligen Verleger Kaspar Braun.

Kaspar zahlte Busch für die Geschichte die stolze, aber in Anbetracht des zukünftigen Erfolgs lächerliche Summe von 1.000 Gulden. Damit sollte der Verleger auf lange Sicht eine goldene Unternehmernase beweisen. Der Verkauf der ersten Auflage verlief bis 1886 zwar schleppend, danach ging es mit den Absatzzahlen aber steil bergauf. „Max und Moritz“ wurde schon zu Buschs Lebzeiten zum internationalen Kassenschlager und mauserte sich in den letzten 150 Jahren zu einem der meistverkauften und meistübersetzten Kinderbücher aller Zeiten.

„Unglaublich innovativ“

„Der Reiz an Wilhelm Buschs Werk bestand für seine Zeitgenossen darin, dass das Werk unglaublich innovativ war“, so Kinder- und Jugendliteraturforscher Ernst Seibert von der Universität Wien im Gespräch mit ORF.at. In ihrer Gesamtheit und gegenseitigen Verwebung seien sowohl Sprache und Figuren als auch Inhalt und Aufmachung etwas vollkommen Neues gewesen. Einmalig seien auch die Zeichnungen: Mit diesen habe der Bewunderer der spätromantischen Künstler Ludwig Richter und Moritz von Schwind zu einer neuen Einfachheit gefunden. „Buschs Kunst war das Aussparen von Nebensächlichkeiten, verbunden mit treffsicherer Satire“, so Seibert.

Die widerborstigen Figuren Max und Moritz widersprachen ganz und gar dem damaligen Wunschbild des gefügig-sanften Kindes, womit die beiden „Revoluzzer“ sowohl kindheits- als auch erwachsenenadressiert eine absolute Neuheit waren. Prinzipiell war die Nebeneinanderstellung von Sprache und Bild für eine spätere Kunstform richtungsweisend. Auch die lautmalerischen „Knusper Knaspers“, „Schnupdiwups“ und „Ritzeratzes“ deuten bereits Charakteristika des modernen Comics an.

Doppelbödigkeit wirkt bis heute

Letztlich habe Busch mit seiner Doppelbödigkeit aber den Nerv der Zeit getroffen. Denn „Max und Moritz“ habe sich von der Ersterscheinung 1865 an keineswegs nur an Kinder gerichtet. Vielmehr hat Busch laut Seibert die Romantisierung des bürgerlichen Lebens und die nachfolgende biedermeierliche Enge, vor allem den verzopften Umgang mit Kindheit, wahrgenommen und ins Gegenteil verkehrt.

So wurde die Rebellion der beiden Spitzbuben zum Befreiungsakt gegen eine Pädagogik, die Busch, überzeugt vom Pessimismus eines Arthur Schopenhauer, zum Scheitern verurteilt sah. „Im Grunde muss man Mitleid mit Max und Moritz haben. Sie sind trotz all ihrer Grausamkeit die Opfer einer kleinbürgerlichen Pädagogik, gegen die sie mit ins Groteske gesteigerten Lausbubenstreichen rebellieren“, so Seibert.

Gleichzeitig sei es dem Künstler allerdings gelungen, mit der für Kinder reizvollen Sprache, der dynamischen Reimform und den charmanten Zeichnungen ein Paket zu schnüren, das sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen Anklang findet. „Gewissermaßen zählt ‚Max und Moritz‘ zur All-Age-Literatur“, so Seibert, „das Kunststück, das ‚Max und Moritz‘ gelingt, ist es, gleichermaßen Kinder zu unterhalten und Botschaften an die Erwachsenenwelt zu senden. Das macht das Werk zu einem Klassiker.“

Saskia Etschmaier, ORF.at

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