Absolute Perspektivlosigkeit
Mehr als vier Jahre nach Beginn der gescheiterten Revolution gibt es in Syrien kaum einen Ort mehr, der nicht mittelbar oder unmittelbar vom verheerenden Bürgerkrieg betroffen ist. Dieser hat in den letzten vier Jahren mindestens 200.000 Menschen das Leben gekostet und unzählige Syrer in die Flucht getrieben.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
„Wenn der Krieg in dieser Intensität weitergeht, wird es weiteren Hunderttausenden Menschen nicht anders möglich sein, als aus dem Land zu fliehen“, ist Helmut Krieger vom Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien überzeugt. Syrien entvölkert sich - von den einst 22 Millionen Bewohnern mussten mehr als die Hälfte innerhalb oder außerhalb des Landes fliehen. 85 Prozent der Verbliebenen leben in den heftig umkämpften Städten und den restlichen Teilen Syriens, in denen massive militärische Auseinandersetzungen zwischen Präsident Baschar al-Assads Regierungstruppen und bewaffneten Oppositions- und Rebellengruppen stattfinden.
Defektes System
Es ist nicht nur die militärische Aktivität, die das Leben im Land unerträglich macht. Die Situation der Bevölkerung wird dadurch verkompliziert, dass auch Gebiete, die keine direkten Kriegszonen sind, unter der Zersetzung des Landes leiden, so Krieger. Vier von fünf der im Land verbliebenen Syrer sind laut des UNO-Flüchtlingshochkommissars (UNHCR) arm und verdienen weniger als zwei US-Dollar am Tag. Wer noch einen Job hat, dessen Löhne sind schon lange nicht mehr gestiegen. Das syrische Pfund ist nichts mehr wert, die Preise für alltägliche Güter sind dagegen explodiert.
Auch die industrialisierte Landwirtschaft ist laut dem Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger vollkommen zusammengebrochen. Die Ernährung der Bevölkerung wird zu weiten Teilen durch Schmuggel und Auslandshilfe aufrechterhalten. Wo Nahrung verfügbar ist, ist sie quasi unleistbar. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“) schreibt, kostet in der kurdischen Stadt Qamishli beispielsweise ein Kilo Fleisch 2.000 syrische Pfund, umgerechnet etwa acht Euro. Ein Bäcker oder Verkäufer verdiene allerdings höchstens 60 Euro im Monat. Vor der Revolution lag der Durchschnittslohn bei etwa 200 Euro, so Krieger.
Brüchige Normalität
Zwar versuche laut den befragten Experten die Regierung in gewissen Regionen eine Art von Normalität aufrechtzuerhalten, diese sei aber aufgrund der hohen Dynamik des Kriegsgeschehens äußerst brüchig. Von der Regierung kontrollierte Städte wie Damaskus, Homs, Qamischli, Tartous oder Latakia wiesen eine verhältnismäßig bessere Sicherheitslage auf als der Rest des Landes, konstatiert Firas al-Chateeb von UNHCR Syrien auf Nachfrage von ORF.at.

APA/EPA/Syrian Arab News Agency
Anfang September erschütterte die Explosion einer Autobombe Latakia
Doch auch diese Städte würden regelmäßig von tödlichen Angriffen und Zusammenstößen erschüttert, da die Umgebung und Außenbereiche der meisten von der Regierung gehaltenen Städte in den Händen von regierungsfeindlichen Kräften liegen. Zudem brodelt es auch innerhalb dieser Refugien. Selbst regimetreue Teile der Bevölkerung wenden sich zunehmend mit dem Vorwurf, es würde nicht für genug Schutz sorgen, gegen das Regime. Zusätzlich steigen ethno-konfessionelle Spannungen.
Kaum noch Infrastruktur
Die Infrastruktur weiter Teile des Landes liegt quasi in Trümmern. Attacken hätten laut UNO in den letzten Wochen und Monaten zu signifikanten Einschränkungen in der Wasser- und Stromversorgung in Aleppo, Damaskus und Dar’a geführt. Allein im August mussten zwei Millionen Menschen in Aleppo ohne Wasser auskommen. Das Bildungssystem ist mehr als lückenhaft. Zwei Millionen Kinder gehen laut Schätzungen der UNO nicht zur Schule, weiteren 450.000 droht ein Ausstieg, und Hunderttausende leben im Territorium des Islamischen Staates (IS).
Auch Krankenhäuser und medizinische Infrastruktur bleiben nicht sicher. Im August 2015 hat die NGO Physicians for Human Rights zwölf Attacken auf medizinische Einrichtungen registriert, bei denen 15 Kräfte getötet wurden. Damit wird auch das Gesundheitssystem als Ganzes zersetzt. Nicht einmal mehr die Basisversorgung kann gewährleistet werden. Zuletzt, so die „SZ“, hätten sich beispielsweise in der zwischen vom IS und Regierungstruppen umkämpften Stadt Deir ez-Zor Hunderte Menschen mit Tollwut und Leishmaniose infiziert.
Unklare Herrschaftsverhältnisse
Die Lage im Land wird unterdessen auch politisch und militärisch immer verfahrener, so Schmidinger. Assads Regierungstruppen sind unter anderem wegen personellen und strukturellen Mängeln in großen Teilen des Landes in der Defensive, haben aber an der Küste und der angrenzenden Bergregion weiterhin die Oberhand. Zusätzlich verliert der Regierungsblock zunehmend seine Einheit. Milizen, die nicht Teil der Armee sind, aber vom Regime unterstützt werden, gewinnen an Bedeutung.
Der Norden an der Grenze zur Türkei wird immer noch von den Kurden und ihren Verbündeten wie beispielsweise der ehemaligen Freien Syrischen Armee (FSA) dominiert. Sie können sich derzeit militärisch gut behaupten und damit offensiv in Richtung IS reagieren. Allerdings befindet sich auch die Terrormiliz selbst in der Offensive, wie die Einnahme von Palmyra und das Vordringen in Richtung der Vororte von Damaskus zeigt.

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: ISW
Im Nordwesten des Landes, westlich von Aleppo und rund um Idlib, hat sich zudem ein dschihadistisches Territorium etabliert, das dauerhaft von der mit der Terrorirganisation Al-Kaida assoziierten al-Nusra-Front und anderen militanten Gruppen regiert wird. Die Präsenz gemäßigter und nicht islamistischer Rebellengruppen ist landesweit stark gesunken. Im Norden hat die alte FSA abgesehen von mit den Kurden assoziierten Truppen quasi aufgehört zu existieren, im Süden des Landes gibt es allerdings noch ein Gebiet, das von verschiedenen gemäßigten Rebellengruppen kontrolliert wird.
Größte Fluchtbewegung innerhalb der Grenzen
Im Laufe des Konflikts mussten rund elf Millionen Bewohner fliehen. Der Löwenanteil liegt dabei bei 7,6 Millionen intern vertriebenen Menschen. Intern vertrieben worden zu sein bedeutet nicht, sich in andere Landesteile zu flüchten und dort ein neues Leben aufbauen zu können - interne Vertreibung bedeutet ein Leben in temporären Unterkünften und die unmittelbare Flucht aus einer Kriegszone, so Krieger. Viele der intern Geflohenen hätten alles verloren. Zusätzlich sei es NGOs aufgrund von Blockaden der regierenden Mächte, der gefährlichen Sicherheitssituation und fehlenden Strukturen kaum möglich, diese Menschen mit Hilfsgütern zu erreichen, so Schmidinger.
Derzeit existieren laut den befragten Experten keine Regionen, aus denen besonders stark geflohen wird. Fluchtbewegungen seien immer die Folge besonders intensiver Kämpfe, von denen sich Menschen wegbewegen würden, so al-Chateeb. Auch hat die Notwendigkeit zu fliehen laut den Experten soziale Klassen, religiöse Angehörigkeit und demografische Unterschiede überholt. Die Flucht, so al-Chateeb, sei immer noch illegal, riskant und erfordere vor allem eine große Menge Geld. 4,1 Millionen Menschen sind bis dato in Richtung der Nachbarländer Türkei, Jordanien, Libanon, Irak und Ägypten geflüchtet, nur ein Bruchteil davon wagt die riskante Weiterreise nach Europa.
Leben ohne Perspektive
Die Flucht nach Europa oder die Migration in Städte der Nachbarländer sei die logische Weiterentwicklung zur „katastrophal perspektivenlosen“ Situation in den Lagern, so Krieger. Aus dieser heraus würden Menschen ihre Handlungsoption entwickeln, ihre Zukunft einschätzen und damit auch gefährliche Fluchtrouten in Kauf nehmen.
Neben der Notwendigkeit, ihr Überleben zu sichern, sei es vier Jahre nach Beginn des Konflikts zu großen Teilen die Perspektivlosigkeit, welche die Menschen zur Flucht treibt. Es gehe darum, ein Leben im Krieg ohne Aussicht auf Arbeit, Ausbildung und vor allem ohne absehbare politische und militärische Lösung hinter sich zu lassen. Die Menschen habe jede Hoffnung auf eine Zukunft für Syrien verlassen. „Die Syrer sehen nicht mehr, wie dieser Krieg beendet werden kann, wie sie nach einer möglichen Beendigung weiterleben können und wer sie regieren soll. Diese Frage wird sich dann allerdings umso dringender stellen“, so die Experten.
Saskia Etschmaier, ORF.at
Links: