Die Geschichten hinter den Lieblingsteilen
Sheila Heti, Heidi Julavits und Leanne Shapton sind preisgekrönte Autorinnen und unverdächtig, was Sexismen betrifft. Umso größer ist das Interesse an ihrem Buch „Frauen und Kleider“. Der künstlerisch gestaltete Schmöker entfaltet ein berührend ehrliches und witziges Kaleidoskop der Beziehung von Frauen zu ihrem Kleiderkasten. Nach Frauenmagazintipps fürs perfekte Outfit sucht man darin vergebens.
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„Hast du je etwas gekauft, das im weitesten Sinn dein Leben verändert hat? Welchen kulturellen Hintergrund hast du, und wie beeinflusst er deinen Kleidungsstil? Hast du Träume, in denen Kleider eine Rolle spielen?“ Diese und viele andere Fragen fassten Heti, Julavits und Shapton in einem Fragebogen zusammen und verschickten und verteilten ihn an Hunderte Frauen in der ganzen Welt. Die besten Antworten vereinte das Trio dann in seinem Buch.
Blick über den Tellerrand
Beim Suchen von Modebüchern in mehreren Buchhandlungen waren die drei Freundinnen enttäuscht. Es fanden sich zahlreiche Titel zu den Outfits von Audrey Hepburn oder „Vogue“-Modebücher, jedoch nichts, das sie selbst gerne lesen würden - und schon war die Idee zum Buchprojekt geboren. Anfangs befragten die Autorinnen ihr direktes Umfeld, Freundinnen, Künstlerinnen, Designerinnen. Der Blick über den Tellerrand fehlte jedoch und so begannen sie, Fragekärtchen an Frauen aus verschiedenen sozialen Schichten und vielen unterschiedlichen Kulturen zu verteilten.

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Eine Frau und ihre Schuhe
Die drei Schriftstellerinnen begnügten sich jedoch nicht nur mit den gesammelten Aussagen zu Themen wie modische Einflüsse, erste Erinnerungen, Frisuren und Problemzonen, sondern ergänzten das von der Künstlerin und Illustratorin Shapton aufwendig gestaltete Werk mit Unerwartetem. Dazu gehören neben vollständig transkribierten Gesprächen und Interviews auch Gedichte und schräge Bilderserien. So entstand schließlich eine Schatzkiste, gefüllt mit Möglichkeiten, Bedeutungen und Ausdrucksformen, die zeigt, wie sich Frauen der emotionalen Sprache von Kleidern bedienen.
„Ein herrlich eigenständiges Buch“
Das wurde auch von internationalen Medien gewürdigt, die sich mit der Kategorie „Modebuch“ sonst wohl nicht auseinandersetzen. So etwa US-amerikanische Fachmagazine wie „Publishers Weekly“, in dem von einer „provokanten Momentaufnahme heutigen Frauseins“ die Rede ist, und „Kirkus“, laut dem das Buch Leserinnen von der Vorstellung befreit, Frauen müssten einem Ideal entsprechen.
Buchhinweis
Sheila Heti, Heidi Julavits und Leanne Shapton: Frauen und Kleider. S. Fischer, 448 Seiten, 25,70 Euro.
Es ermögliche Frauen, ihre Einstellung zum eigenen Äußeren zu überdenken: „Ein herrlich eigenständiges Buch“, so „Kirkus“. Und die „Frankfurter Allgemeine“ schrieb schon beim Erscheinen des englischsprachigen Originals „Women in Clothes“: „Dieses Buch feiert die Einzigartigkeit jeder Frau und ihres Stils.“
Preziosen und andere Fundstücke
Heti, Julavits und Shapton haben mit ihren 561 Mitwirkenden eine Art modisch-soziologische Stilbibel geschaffen, die im Gegensatz zu den gern gekauften Lifestyle-Frauenmagazinen auf Empfehlungen und Ratschläge etwa zu Kleiderkombinationen verzichtet.

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Eine Frau und ihre Unterhosen
In „Frauen und Kleider“ ist kaum ein vollständiges Outfit abgebildet. Die Fotostrecken beschränken sich auf skurrile und künstlerisch aufgearbeitete Themen wie die ungetragenen Halsketten einer befragten Dame oder die geerbten Kleidungsstücke der Mutter, die eine andere in ihrem Schrank verwahrt. Es sind die Geschichten, die hinter den Lieblingsteilen stecken, die interessieren.
„Sie ist mit dem falschen Kerl zusammen“
Julavits machte sich auch mit der Geruchsforscherin Leslie Vosshall in der Garderobe eines gut besuchten New Yorker Restaurants auf eine ungewöhnliche Mission. Die Forscherin schnüffelte an abgegebenen Kleidungsstücken und entwarf zu den abwesenden Trägern eine Art Charakterstudie. Am Garderobenhaken befinden sich eine zu analysierende Herren-Barbour-Wachsjacke sowie eine beige Damenwolljacke von J. Crew (Michelle Obamas Lieblingslabel).

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Eine Frau und ihre Büstenhalter
Vosshall beschreibt den Mann nach der ersten Probe seines an der Jacke haftenden Odeurs als zutiefst konservativ und schimpft leidenschaftlich über die täglichen Geruchsverbrechen eines Deoanbieters. Die „pudrig und nach Veilchen“ duftende Begleiterin beschreibt sie als kultivierte und subtile Person. Ihr Fazit ist vernichtend: „Ich denke, sie ist mit dem falschen Kerl zusammen.“ Das ist natürlich Snobismus in Reinform, aber auch nicht ganz ernst gemeint. Bei allem künstlerisch-aufklärerischen Anspruch: Das Buch ist auch witzig.
Manolo Blahniks für das Bedrohungsszenario
Kleidung sei vergleichbar mit einer Landkarte mit zu entschlüsselnden Codes und Botschaften - manches Stück erstehe man für einen speziellen Anlass, es soll die Trägerin bei einer Aufgabe unterstützen, wie eine Befragte schildert: „Als ich mich scheiden ließ, kaufte ich mir ein Paar Manolo Blahniks mit Stahlspitze, um den Anwälten entgegenzutreten.“ Eine andere Frau berichtet von einem Geschenk, das sie aufmuntern sollte: einem 18-karätigen goldenen Fingernagel. Erst später habe sie erfahren, dass das frivol gemeinte Präsent in gewissen Kreisen als Kokainschaufel genutzt wird. So etwas nennt man dann wohl First-World-Problem.

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Eine Ärztin und ihr OP-Gewand
Kleidung ist aber nicht nur zweckmäßig, nicht nur Dekoration oder Schutz, sondern findet auch im therapeutischen Bereich bei Anorektikern mit gestörter Körperwahrnehmung Anwendung. Durch einen enganliegenden Neoprenanzug werde das Körperbild der Probanden begreifbarer, erklärt Modetheoretikerin Renate Stauss. Zudem wird die wärmende Schutzschicht als angenehm empfunden. Die darauf folgende Gewichtszunahme der Kranken sei beeindruckend, so Strauss.
„Wenn es billig ist, kaufen wir es“
Kleider machen nicht nur Leute, sondern werden auch von Leuten gemacht. In Kambodscha gehen über 400.000 Textilarbeiter unter unwürdigen und gefährlichen Bedingungen ihrer Tätigkeit nach. Autorin Julia Wallace beschreibt in ihrem Beitrag die „Uniformen“ vieler Näherinnen: „Blue Jeans, Schirmmützen und knallbunte T-Shirts oder Kapuzenshirts in leuchtendem Pink oder Neongelb, häufig mit Leopardenmuster oder Strasssteinen.“
Die Annahme, dass die Frauen ihre schrillen Outfits bewusst wählten, um so einen Kontrast zur monotonen Fabriksarbeit herzustellen, stellte sich als naiv heraus. Ein Langarmshirt mit Chanel-Schriftzug und Logo veranlasste Wallace zur Frage, ob es die Näherin deswegen erstanden habe. Die Antwort lautete: „Ich kenne Chanel nicht. Außerdem kann ich nicht lesen, also ist mir egal, was darauf steht. Das Wichtigste für uns ist der Preis. Wenn es billig ist, kaufen wir es.“
Ethisch vertretbare Strapse
Menschenrechtsjournalistin Mac McClelland beschreibt in einem Interview ihre Wut als Jugendliche, nachdem sie eine Dokumention über die Ausbeutung der Arbeiter in den GAP-Textilfabriken gesehen hatte. Nachdem sie jahrelang die Waren des Unternehmens gemieden hatte - ein „Riesenopfer für einen Teenager der 90er Jahre“ - erklärte ihr eine Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation in Kambodscha, sie solle so viel bei GAP kaufen wie sie wolle: Sonst wären die Kambodschanerinnen diesen Job los und müssten als Prostituierte arbeiten.

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Eine Frau und die Garderobe ihrer verstorbenen Mutter
Zur Hochzeit gönnte sich die Journalistin sexy Strapse, die obendrein ethisch vertretbar sein sollten. Bei der Lingerie entschied sie sich gegen den umschwärmten Hersteller Victoria’s Secret, da dem Unternehmen Kinder- und Sklavenarbeit nachgesagt wurde, und kaufte ein handgefertigtes sowie ethisch vertretbares Produkt auf dem Onlinemarktplatz Etsy.
Fehlkäufe und andere Erinnerungen
Manche Berichte und Aussagen werden für viele einen starken Wiedererkennungswert im Alltag haben. Zahlreiche Frauen nennen einen sogenannten Schrankstuhl ihr Eigen: eine Sitzgelegenheit im Schlafzimmer mit temporärer Funktion als Kleiderkasten. „Ich habe so einen Schrankstuhl bei fast allen meinen Freundinnen entdeckt“, merkt eine Befragte dazu an.

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Eine Frau und ihre Kleider
Wunderbar sind auch die Erinnerungen an diverse Fehlkäufe bzw. -griffe, ob teuer, billig oder gar gestohlen. „Als ich dick war, habe ich viele Kleider geklaut. Ich war überzeugt davon, dass mir die wenigen Dinge zustehen, die gut an mir aussehen“, so eine weitere Befragte. Beim Kramen in der eigenen Historie tauchen beim Lesen lange vergessene Bilder auf: Erinnerungen an den zu kurzen und schief geschnittenen Pony (ein Malheur, das man der Mutter nie verzeihen konnte) oder an Hänseleien in der Schulumkleidekabine, weil man das Unterhemd auf uncoole Weise in die Hose steckte.
Kontrollverlust mit Jogginghose
Man kann wenig Wert auf die eigene Kleidung legen. Was aber nicht geht: durch die eigene Kleidung keine Aussage über sich selbst zu treffen. In dieser Hinsicht huldigt die Lektüre der Einzigartigkeit der Frau und bewegt sich in konzentrischen Kreisen auf ein erleichterndes Fazit zu: Dass gutes Aussehen durch das Tragen von sündhaft teuren Designerklamotten nicht garantiert ist, sondern das eigene Gefühl, gut angezogen zu sein, eine viel größere Rolle spielt. Also am besten das tragen, was einem auch wirklich gefällt und der größte Schritt Richtung Schönheit ist getan.
Karl Lagerfeld sagte noch 2012: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Zwei Jahre später schickte er Modells bei der Pariser Fashion Week in Sweatpants und lockeren Leggings über den Laufsteg. Was in der veröffentlichten Meinung als schick und in gilt, diktiert den Frauen die Modeindustrie - nicht aber, was ihnen wirklich steht. Das muss jede für sich selbst entscheiden. Oder gemeinsam mit einer guten Freundin.
Carola Leitner, ORF.at
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