Abstrakte Augenweide
Ein Erlebnis für passionierte Deuter rätselhafter Bilder hat das Linzer Musiktheater am Samstagabend mit der Premiere von Giuseppe Verdis „La Traviata“ geboten. Verantwortlich dafür zeichnet Robert Wilson, der in Personalunion als Regisseur, Bühnenbildner und Lichtdesigner die traurige und mitunter rührselige Geschichte der vom Weg Abgekommenen einmal mehr in seine abstrakten Tableau vivants übertrug.
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Das Libretto von Francesco Maria Piave folgt Alexandre Dumas’ Roman „Die Kameliendame“ und schildert den letzten Lebensabschnitt der lungenkranken Edelprostituierten Violetta, die zum ersten Mal ein Liebesobjekt in Alfredo findet - damit jedoch nicht in den bourgeoisen Wertekanon von dessen Vater Germont passt und von diesem an einer verbindlichen Beziehung mit Alfredo gehindert wird. Erst am Sterbebett finden die Liebenden schließlich wieder zusammen, und Alfredos Vater bittet Violetta um Verzeihung, bevor sie stirbt.
„Ich habe keine Botschaft“
Mit Violettas Tod wird die Verbindung, die einfach nicht sein darf, endgültig und tränenreich aus der Welt geschafft. Für diesen antibürgerlichen und gesellschaftskritischen Inhalt der Oper hat Wilson jedoch nichts übrig. In seiner Inszenierung gibt es auch keine Handlung, keinen Höhepunkt, kein Psychogramm der Figuren.

Olaf Struck
Fernöstlich anmutende Gesten statt Handlung
Verdis Regieanweisungen sind ebenso außer Kraft gesetzt wie die Regeln der konventionellen Dramaturgie. „Ich habe keine Botschaft, es geht nicht um Interpretation“, sagt Wilson über sein Regiekonzept und setzt stattdessen auf assoziative Bilderwelten, gepaart mit einem höchst artifiziellen und bis ins kleinste Detail durchchoreografierten Spiel.
Marlene Dietrichs Coolness
Herausgeschnitten aus den szenischen Konstellationen interagieren die Figuren auf Wilsons Bühne nicht, vielmehr servieren sie dem Publikum frontal die einzelnen Parts. Mit ihren grotesken Gesten, Zuckungen und Grimassen, die ihnen der Regisseur auferlegt, bleiben sie samt kreideweißer Schminke seltsam seelenlos, kühl und erstarrt in ritueller Mechanik von Bewegungsabläufen, die an die fernöstliche Theatertradition anknüpfen.
Zu Hilfe kommt ihnen dabei Verdis Musik. Den Gegensatz von warmer Stimme und kühler Atmosphäre habe er sich von Marlene Dietrich abgeschaut, die ihm einst erklärt haben soll, dass sie ihre sexy Stimme mit Coolness betone. Für Wilsons Geschmack sind die Verdi-Inszenierungen oft zu „süßlich“ und „unerträglich“.
Leere und Kälte mit Suggestivkraft
Minimalistisch, abstrakt und kalt präsentiert sich auch die Bühne, die vom Anfang bis zum Ende ein leerer Raum bleibt. Oft deklamieren die Sänger vor blankem, blauen Hintergrund an der Rampe. Bis auf wie zu überdimensionalen Mikadostäbchenhaufen aufgetürmte Spieße, die sich ineinander schieben, eine Truhe und eine Liege für die Sterbeszene gibt es keine Requisiten.
Von der Decke hängt mal ein riesiges zerknülltes Foto (von Alfredo?), mal sind es messerscharfe Eissplitter, Leuchtröhren und vereinzelte Lampen. Angedeutete Fenster werden wie in Bertolt Brechts epischem Theater schlicht auf eine Leinwand im Hintergrund projiziert.
Licht als Kommentar zur Musik
Die Hauptrolle spielt Wilsons bewährte Lichtwand am Horizont, die die leere Bühne zumeist in stählernes Grau und tiefes Blau taucht und in ein düsteres Schattenreich verwandelt. Statt die Figuren abtreten zu lassen, blendet sie Wilson aus und lässt sie als schwarze Silhouetten stehen. Vereinzelte Farbtupfer bilden lediglich rot und grün ausgeleuchtete Gesichter.

Olaf Struck
Reduktion bis zum Maximum
Das Licht spielt dabei eine ambivalente Doppelrolle. Einerseits konterkariert es die Drastik der Geschichte, bricht als Störmoment das Spiel, andererseits verleiht es stets im passenden Moment und auf die Musik exakt abgestimmt den Charakteren jene emotionale Färbung, die sie gerade verbalisieren. Alles was sein magischer Strahl trifft, soll noch einmal verstärkt und verklärt werden.
Die Oper als magischer Ort
Mit seinem hochartifizieller Kunstraum und seiner detailverliebten Choreografie gelingen Wilson Bilder von großer Suggestivkraft, die ihren eigenen Zauber entfalten und den Zuschauer in ihren Bann ziehen. Die Oper verwandelt sich in jenen Ort, der tauglich ist, „inmitten der entzauberten Welt“ das „magische Element der Kunst zu bewahren" (Theodor W. Adorno). Und dieses artikuliert sich naturgemäß zuallererst in der musikalischen Darbietung.
Brillierende Besetzung
Myung Joo Lee in der Titelpartie brilliert sowohl gesanglich wie auch darstellerisch. Ihre Stimme zeichnet sich durch Leuchtkraft, Glanz und Tragfähigkeit aus und bietet eine bemerkenswerte Emotionspalette, die die anspruchsvollen Koloraturen des ersten Akts ebenso schafft wie die gefühlsbetonten Passagen des Verzichts und die Pianissimi der Sterbenden. Zugleich spielt Lee Wilsons komplizierte Gebärden und Drehungen mit beinahe exzessiver Energie. Die zusätzliche Köperbelastung durch die Regievorgaben und eine ständige Bühnenpräsenz bewältigt sie souverän. Dafür gibt es immer wieder Szenenapplaus und Bravorufe.

Olaf Struck
In Wilsons düsterem Schattenreich
Dass es dennoch nicht nur ausschließlich ihr Abend wird, verdankt sich der weiteren tadellosen Darbietung von Jacques le Roux als Alfredo, der mit seinem schlanken Tenor ohne zu viel Timbre überzeugt, und Seho Chang als Alfredos Vater, der mit seinem voluminösen Bariton keine Wünsche offen lässt. Beide machen Zuhören und –sehen zum Genuss. Herausragend intoniert und skandiert der Chor. Daniel Spaw am Dirigentenpult trotzt dem Bruckner Orchester Linz jene Raffinesse ab, ohne die Violettas langes Sterben nicht auskommt. Ihm gelingt auch ein präzise koordiniertes Zusammenspiel zwischen Orchestergraben und Bühne.
Im Auftrag von Mortier
Wilsons „Traviata“ war ursprünglich von Gerard Mortier für die Madrider Oper in Auftrag gegeben worden, wo sie heuer im April Premiere hätte feiern sollen. Nach dessen Tod 2014 wurde die Inszenierung dort jedoch abgesagt, worauf Linz gemeinsam mit dem Theatres de la Ville de Luxembourg und dem Opernhaus im russischen Perm zugriff.
Neu oder nicht neu?
In Summe ist die Linzer „Traviata“ eine gelungene Inszenierung aus Bewegung, Licht und Klang, die nichts schuldig bleibt. Nichts Neues - monieren vielleicht Wilson-Kenner, die wissen, dass sich Wilsons magisches Bildertheater seit Jahrzehnten perpetuiert.
Eine neue Lesart - antworten darauf vielleicht die Fans, die wiederum wissen, dass eine originelle Neuinterpretation angesichts der seit der Uraufführung 1853 nicht mehr zu überschauenden „Traviata“-Deutungen fast unmöglich erscheint. Wilson sorgt jedenfalls für ein optisches Faszinosum, das das Premierenpublikum am Ende mit Standing Ovations belohnte. Nur wenige trauten sich ein zaghaftes Buh.
Armin Sattler, ORF.at, aus Linz
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