Keine Miss Marple
Agatha Christie wird gerne mit Miss Marple verwechselt. Alt, schrullig, bieder, aber irgendwie genial. Verstärkt wird diese Wahrnehmung durch Fotos: Fast immer sieht man Abbildungen der Autorin jenseits der 70. Aber Christie wurde erstens nicht erst mit 70 geboren, war zweitens genauso humorvoll wie exzentrisch, drittens schrieb sie längst nicht nur Krimis und viertens lebte sie unkonventionell.
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Beschreibungen von Christie kommen selten ohne Superlative aus: Sie ist die meistverkaufte und -übersetzte Autorin aller Zeiten. Ihr seit 1952 im Londoner Westend am Spielplan stehendes Stück „Die Mausefalle“ hält den Rekord für die längste ununterbrochene Laufzeit. Nur Shakespeare und die Bibel werden öfter aufgelegt als Werke der am 15. September vor 125 Jahren geborenen „Queen of Crime“. Mehr als vier Milliarden ihrer Bücher wurden gedruckt.
Es sind vor allem die verschachtelten Plots, weshalb Christie-Fans die Bücher wieder und wieder lesen und die Krimis in jeder Generation neue Anhänger finden. Niemand ist bei Christie ganz unschuldig, jeder hat ein Geheimnis, und auf der Suche nach dem Mörder kommen alle ans Tageslicht. Dabei wird die Doppelmoral der Gesellschaft ins Visier genommen. Je honoriger die Personen, desto tiefgreifender ihr moralischer Verfall.

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Agatha Christie als junges Mädchen
Miträtseln bis zuletzt
Eifersucht, Gier und Rachsucht sind wiederkehrende Motive. Der schöne Glanz der britischen Gesellschaft wird dabei gehörig angekratzt. Dass Christie bei der Beschreibung von ärmeren Menschen etwas schablonenhaft vorging, war ihrer Zeit geschuldet. Dienstboten wurden bei ihr bisweilen zu „edlen Wilden“, die ein gutes Herz hatten, auch wenn sie nicht allzu intelligent waren.
Am wichtigsten war Christies Krimis, dass ein ganzes Set an Personen etabliert wurde, die für die Täterschaft infrage kamen. Das ist das große Angebot der Autorin an die Leser und der Hauptgrund dafür, warum die Bücher immer noch gekauft werden: Man kann bis zuletzt miträtseln, wer der Täter war. Und meist hätte man es wirklich wissen können, hätte man nur aufmerksam genug gelesen. Am Ende haben Hercule Poirot und Miss Marple dann immer noch eine kleine Volte bei der Auflösung auf Lager. Für Überraschungen war stets gesorgt.
Von Poirot genervt
66 Kriminalromane hat Christie nach diesem Rezept geschrieben - unter anderem „Mord im Orient-Express“, „Tod auf dem Nil“, „Mord im Spiegel“, „Das Böse unter der Sonne“, „Letztes Weekend“ (später „Zehn kleine Negerlein“ bzw. „Und dann gabs keines mehr")“ und „16 Uhr 50 ab Paddington“. Bekannt geworden war sie mit ihrem 1926 veröffentlichten Krimi „Alibi“. Dass ihre Figuren Endlosserien bestreiten mussten, war nicht immer freiwillig. Hercule Poirot etwa begann Christie mit der Zeit ganz gehörig auf die Nerven zu gehen.
Der belgische Privatdetektiv habe der Autorin zum Hals herausgehangen, doch wegen des Erfolgs der Krimis habe der Verlag immer mehr Folgen verlangt, sagte ihr Enkel Mathew Prichard vor Jahren in einem Interview der britischen Zeitschrift „Radio Times“. „An Ideen für neue Bücher hat es ihr nie gemangelt, aber manchmal passten die Ideen nicht zu Poirot“, erinnerte sich Prichard.
Doch die Verleger, die an die Einnahmen gedacht hätten, seien begeistert von Poirot gewesen, dem erfolgreichsten Charakter aus der Feder von Agatha Christie. Seine Großmutter habe das Schreiben der Poirot-Bücher daher als Broterwerb angesehen. Christie verfasste zwischen 1920 und 1975 insgesamt 33 Romane und 51 Kurzgeschichten mit Hercule Poirot. Ihre zweite überaus populäre Hauptfigur, die schrullige britische Detektivin Miss Marple, ermittelte in zwölf Romanen und 20 Kurzgeschichten.

AP
Christie, hier im Alter von 84 Jahren zu sehen, las Gästen bis zuletzt gerne aus ihren Büchern vor
Zwei Ehen, zahlreiche Reisen
Ihre Heimatstadt Torquay, wo Agatha Mary Clarissa Miller 1890 zur Welt kam, feiert den 125. Geburtstag der Autorin mit einem neuntägigen Festival. Neben Lesungen, Diskussionen, Workshops und Aufführungen ihrer Stücke wird es auch eine Fotoausstellung mit bisher unbekannten Bildern von Christie aus dem Archiv der Familie geben. „Das Bild, das die Leute von Agatha Christie haben, ist das von einer älteren, Miss-Marple-ähnlichen Frau“, sagte Festival-Direktorin Anna Farthing, „aber die Ausstellung und das Festival blicken auch auf Agatha Christie als jüngere Frau. Ich denke, ihre Lebensgeschichte kann sehr inspirierend sein.“
Tatsächlich erlebte Christie bewegte 85 Jahre: Sie heiratete, bekam eine Tochter, ließ sich scheiden, heiratete erneut, bereiste den Nahen Osten, Afrika und die Karibik. Dabei schrieb sie immer, neben Detektivgeschichten auch Theaterstücke, Liebesromane und Kurzgeschichten. Zeitweise arbeitete Christie so viel, dass sie sich wie eine „Würstchenmaschine“ vorkam. „Ein volles Leben“, sagte Farthing - und eines, aus dem Christie, eine aufmerksame Beobachterin, auch Inspiration für ihre Arbeit zog. „Sie benutzt viele bekannte häusliche Beziehungen“, so Farthing, „und zeitlose Charaktere.“

Magnus Manske unter cc by-sa
Christies Sommerwohnsitz in Devon, England
Der Orient-Express fährt ewig weiter
Während in den Büchern wenigstens ganz am Ende alles geklärt ist, bleibt ein Rätsel aus dem Leben der Schriftstellerin ungelöst: 1926 stand Christie im Mittelpunkt eines Mysteriums, das aus einem ihrer Bücher stammen könnte. Im Dezember jenes Jahres verschwand Christie nach einem Streit mit ihrem ersten Mann für elf Tage. Was genau geschah, konnte nie geklärt werden, Christie selbst sprach nicht über die Episode. Die offizielle Erklärung lautet: Gedächtnisverlust. In den vergangenen Jahren wurde aber spekuliert, dass Christie ihr Verschwinden inszenierte, um ein Stelldichein ihres Mannes mit dessen Geliebter zu vereiteln.
Wie auch immer: Fast vier Jahrzehnte nach ihrem Tod im Jahr 1976 ist das Interesse an Christie selbst und ihren Werken ungebrochen groß. Fans können sich freuen: In Hollywood plant Produzent Ridley Scott eine neue Verfilmung von „Mord im Orient-Express“. Regie führen wird Kenneth Branagh. Wer den Poirot gibt, ist noch nicht klar. Klar ist hingegen, dass es schwer wird, in die Fußstapfen von Sir Peter Ustinov und Albert Finney zu treten. Aber selbst wenn der Film in der Luft zerrissen werden sollte. Am Legendenstatus von Agatha Christie würde das auch 125 Jahre nach ihrer Geburt nichts ändern.
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