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Laut Juncker EU-konforme Vorgangsweise

Nachdem am Wochenende erneut tausende Flüchtlinge via Österreich nach Deutschland gekommen sind, hat die deutsche Regierung am Sonntag einen drastischen Kurswechsel vollzogen und das Schengenabkommen vorübergehend außer Kraft gesetzt. Geht es nach der EU-Kommission, ist die Vorgehensweisen regelkonform - offen ist derzeit noch, wie lange es an der deutsch-österreichischen Grenze nun wieder Kontrollen gibt und damit auch die Auswirkungen für Österreich.

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Die deutsche Polizei hat sich nach eigenen Angaben bereits auf einen längeren Einsatz eingestellt. Für die Aufgabe würden nun mehrere hundert Beamte abgestellt, sagte ein Sprecher am Sonntagabend. „Wir haben uns darauf eingestellt, diese Maßnahme nach einer Phase des Aufwachsens über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten“, hieß es in einer Erklärung des deutschen Bundespolizeipräsidiums weiter.

Kontrollen am Grenzübergang von Salzburg nach Freilassing

APA/Franz Neumayr

Grenzkontrollen in der Nacht auf Montag bei Freilassing

Die Binnengrenzen innerhalb des Schengen-Raums werden den Angaben zufolge bereits seit Sonntagabend kontrolliert. Der Schwerpunkt „wird zunächst an der deutsch-österreichischen Grenze liegen“, hieß es. Ziel sei es, die „Einreise von pass- und visumspflichtigen Drittstaatsangehörigen zu begrenzen“. Die deutsche Polizei wies in diesem Zusammenhang Reisende darauf hin, dass sie mit entsprechenden Kontrollen rechnen müssten und dazu verpflichtet seien, beim Grenzübertritt Reisepass oder Personalausweis mitzuführen. Die Kontrollen werden nach Angaben des deutschen Bundesinnenministeriums an den früheren Grenzübergängen stattfinden.

„Bild“: 2.100 Polizisten nach Bayern beordert

Laut „Bild“ werden in einem ersten Schritt 2.100 Bereitschaftspolizisten zur Mithilfe beim Grenzschutz nach Bayern geschickt. „Hundertschaften der Bundespolizei treffen in Bayern ein“ heißt es in diesem Zusammenhang auch beim deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.

Erste Staus im Grenzgebiet

Kurz nach der Wiederaufnahme der deutschen Kontrollen an der Grenze zu Österreich bildeten sich in der Region bereits erste Staus. Auf der Autobahn von Linz nach Passau kam es wegen der Grenzkontrollen in der Nacht zum Montag zu einem acht Kilometer langen Stau, wie der Verkehrsdienst des Bayerischen Rundfunks meldete. Auch auf der A8 von Salzburg nach München kam es demnach beim Grenzübergang Bad Reichenhall zu Verkehrsbehinderungen. Staus bildeten sich auch auf Bundesstraßen im Grenzgebiet, wie ein AFP-Korrespondent vor Ort und Stelle berichtete.

AFP-Angaben zufolge wurde kurz vor Mitternacht etwa auf der Autobahn am Walserberg bei der ersten Ausfahrt Bad Reichenhall sowie auf der Bundesstraße stichprobenartig kontrolliert. Auf der Bundesstraße 20 zwischen Freilassing und Salzburg wurde den Angaben zufolge eine Straßensperre errichtet. Die Straße war demnach in beiden Richtungen nur noch ein- statt zweispurig befahrbar.

„Es kann nicht mehr jeder kommen“

Geht es nach ORF-Reporter Andreas Jölli, will die Regierung in Berlin mit den nun getroffenen Maßnahmen auch sagen: „Es kann nicht mehr jeder nach Deutschland kommen“.

Bereits kurz nach dem Beginn der Kontrollen wurde dort eine Gruppe von drei aus Syrien stammenden Flüchtlingen, die zu Fuß auf einem Weg neben der Straße die Grenze passieren wollten, gestoppt und zumindest vorläufig an der Weiterreise gehindert. Berichtet wurde zudem von der Festnahme eines Schleppers. Laut AFP hatte ein aus Italien stammende Mann in seinem Van acht syrische Flüchtlinge bei sich. Der Mann wurde festgenommen, die Flüchtlinge in Erstaufnahmeeinrichtungen gebracht.

„Eine Weile“

Deutschlands Innenminister Thomas de Maiziere (CDU) hatte zuvor angesichts des großen Flüchtlingsandrangs über Österreich die vorübergehende Einführung der Grenzkontrollen offiziell angekündigt und damit entsprechende Medienberichte bestätigt. Auch der Bahnverkehr zwischen beiden Ländern wurde am Sonntag bis Montagfrüh eingestellt.

Eindrücke vom Salzburger Bahnhof

APA/Barbara Gindl

Am Sonntag wurde auch der Zugsverkehr nach Deutschland eingestellt

Die Grenzkontrollen sollen auch nach Worten von de Maiziere „eine Weile“ dauern. Einen genauen Zeitrahmen blieb der deutsche Innenminister schuldig: „Das wäre nicht gut, wenn wir vorher sagen würden, wie lange das geht“, wie de Maiziere gegenüber der ARD sagte. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) begrüßte die Vorgangsweise. Nach den jüngsten Ereignissen sei es dringend notwendig gewesen, „dieses Signal zu geben“.

Wie Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) nach einer Krisensitzung der bayerischen Regierung sagte, seien die Kontrollen „gegenwärtig nicht befristet“. Sollte es „Ausweichbewegungen“ geben, stehe Herrmann zufolge auch eine Ausweitung der Kontrollen auf andere Grenzen im Raum. „Bild“-Informationen zufolge sei bereits jetzt die Schleierfahndung in der Nähe der Grenzen zu Tschechien und Polen ausgebaut worden, damit die Grenzkontrollen zu Österreich nicht umgangen werden können.

Temporäre Maßnahme

Der Schengen-Grenzkodex sieht die Möglichkeit vor, „im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“, temporär wieder Grenzkontrollen einzuführen. Diese Maßnahme ist auf 30 Tage oder auf die Dauer der Bedrohung begrenzt, die EU-Kommission und die anderen EU-Staaten müssen informiert werden.

Ungarische Polizei in Alarmbereitschaft

Von tschechischer Seite wurde in diesem Zusammenhang bereits bestätigt, dass die Kontrollen an der tschechisch-österreichischen Grenze nun ebenfalls verstärkt werden. Das weitere Vorgehen sei laut Innenminister Milan Chovanec davon abhängig, wie viele Flüchtlinge auf die Route über Tschechien auszuweichen versuchten.

Wegen der Einführung von Grenzkontrollen in Deutschland sind zudem Teile der ungarischen Polizei in Alarmbereitschaft versetzt worden. Dies bedeute, dass die Polizisten innerhalb von zwei Stunden an ihrer Dienststelle erscheinen müssen, sagte ein Polizeisprecher gegenüber dem staatlichen Fernsehsender M1. Die Anweisung bezieht sich demnach auf die Exekutive von sechs „südwestungarischen“ Komitaten. Es war zunächst unklar, welche Verwaltungseinheiten damit genau gemeint waren. Von den 19 ungarischen Komitaten grenzen an Österreich zwei, an Serbien zwei und an Kroatien drei.

So wie Seehofer wurde die Wiedereinführung der Grenzkontrollen auch von Ungarns Premier Viktor Orban begrüßt. „Wir haben großes Verständnis für Deutschlands Entscheidung und erklären unsere volle Solidarität“, sagte der rechtskonservative Ministerpräsident der „Bild“-Zeitung (Montagausgabe). Orban zeigte sich zudem überzeugt, dass dies nur der erste Schritt sein könne. Konkret forderte Orban nun auch in Griechenland die Grenzen Europas zu schützen.

Keine verschärften Kontrollen an ungarischer Grenze

Faymann erklärte am Sonntag nach einer kurzfristig einberufenen Krisensitzung der Regierung unterdessen, dass es trotz der deutschen Maßnahmen keine zusätzlichen Kontrollen an der Grenze zu Ungarn geben werde. Die bereits bestehenden stichprobenartigen Kontrollen an der ungarischen Grenze würden fortgeführt, so Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP). Wie sich die Kontrollen der Deutschen auf die Situation in Österreich auswirken werden, wollte Faymann noch nicht abschätzen: „Wir können nicht vorhersehen, wie der Rückstau ausschaut.“

Laut Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) müsse sich Österreich nun aber sehr wohl an Deutschland orientieren und ebenfalls Grenzkontrollen einführen, um „verheerende Auswirkungen“ abzuwenden. „Sonst droht die totale Überforderung unserer Landes in nur wenigen Tagen“, wie Kurz am Sonntagabend gegenüber dem ORF sagte.

Angespannte Lage in Nickelsdorf

Wegen der eingeführten Grenzkontrollen Deutschlands würden laut Kurz nun binnen kürzester Zeit Zehntausende Flüchtlinge in Österreich sein statt wie bisher nur durchzureisen. Alleine am Sonntag seien Polizeiangaben zufolge 15.000 Menschen in Nickelsdorf (Burgenland) nahe der ungarischen Grenze angekommen. 5.000 weitere Flüchtlinge werden in der Nacht noch erwartet. Burgenlands Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil warnt dennoch vor vorschnellen Maßnahmen.

Ausweichroute über Kroatien und Slowenien

Laut Hans Peter Doskozil, Landespolizeidirektor Burgenland, könnte eine neue Route künftig über Kroatien und Slowenien bzw. Bulgarien und die Slowakei nach Österreich führen.

Wenn auch Österreich an seiner Grenze zu Ungarn ad hoc restriktive Kontrollen einführte, würden aus seiner Sicht Tausende Flüchtlinge „flächig über die Grüne Grenze“ in die Ortschaften des Bezirks Neusiedl/See kommen und müssten dort versorgt werden und das sei „eine Situation, die wir uns nicht wünschen“, wie Doskozil gegenüber der Sonntagabend-ZIB sagte .

Infolge der geplanten Sperre der ungarisch-serbischen Grenze durch Ungarn werde die Strecke über Budapest und Györ nach Österreich laut Doskozil zudem wohl nicht in der bisherigen Intensität genutzt werden. Dann sei davon auszugehen, dass die Flüchtlinge auf die Route via Kroatien und Slowenien sowie die Route über Bulgarien und die Slowakei ausweichen, um schließlich über Österreich nach Deutschland zu gelangen.

Eindrücke aus Nickelsdorf

APA/Herbert P. Oczeret

In Nickelsdorf kamen allein am Sonntag rund 15.000 Flüchtlinge über die Grenze

„Absolute Notmaßnahme“

Der Vorsitzende der deutschen Innenministerkonferenz, der rheinland-pfälzische Ressortchef Roger Lewentz (SPD), bezeichnete die Grenzkontrollen unterdessen als eine „absolute Notlösung“, um die Lage zu bewältigen. „Dies ist kein Königsweg bei der Lösung der Flüchtlingsproblematik, verschafft uns aber Luft, um zu geordneten Verhältnissen zurückzukommen“.

Laut de Maziere sei die Entscheidung nicht nur „in der Koalition einvernehmlich beraten und beschlossen worden“ - auch die Innenminister der deutschen Bundesländer hätten zugestimmt. Die Opposition habe er persönlich unterrichtet. Auch die österreichische Regierung sei konsultiert worden. Faymann sei einer Sprecherin zufolge am Sonntag auch im Kontakt mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gestanden.

Die Entscheidung für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen fiel laut Seehofer offenbar bereits am Samstag. Gegenüber Reuters sprach Seehofer von einem einstimmigen Beschluss in der schwarz-roten deutschen Regierungskoalition.

„Dringender“ Handlungsbedarf

„Die heutige deutsche Entscheidung unterstreicht die Dringlichkeit der Einigung auf die Maßnahmen, die von der EU-Kommission zum Umgang mit der Flüchtlingskrise vorgeschlagen wurden“, erklärte unterdessen die EU-Kommission in Brüssel. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hatte am Mittwoch im Europaparlament dazu aufgerufen, die Flüchtlingskrise durch Solidarität zu lösen und 120.000 Flüchtlingen über verpflichtende Quoten auf alle Mitgliedstaaten zu verteilen.

Juncker telefonierte laut der Erklärung der Kommission am Sonntagnachmittag mit Merkel. Diese habe den EU-Kommissionspräsidenten darüber informiert, dass Deutschland vorübergehend wieder Grenzkontrollen zu anderen EU-Staaten einführen wolle, insbesondere am Übergang nach Österreich. Solche außergewöhnliche Maßnahmen seien durch die Regelungen im Schengen-Raum vorgesehen. „Auf den ersten Blick“ habe es den Anschein, dass die aktuelle Situation in Deutschland von diesen Regelungen gedeckt sei, erklärte die Kommission.

„Grenzen der Belastbarkeit erreicht“

Die Einführung der Grenzkontrollen werde aber nicht alle Probleme lösen, so de Maziere, der gleichzeitig auf die Einhaltung des zuletzt umstrittenen Dublin-Asylsystems pochte. Die Dublin-Regeln „gelten unverändert fort“, so De Maiziere. „Nach geltendem Recht ist Deutschland für den größten Teil der Schutzsuchenden nicht zuständig.“ Das gelte auch nach Einführung eines EU-weiten „Verteilsystems“ für Flüchtlinge.

Die Hilfsbereitschaft dürfe nicht überstrapaziert und die Lasten müssten solidarisch verteilt werden. Hintergrund der nun gesetzten Maßnahmen ist die zuletzt stark gestiegene Zahl der via Österreich in München neu angekommenen Flüchtlinge. Laut Deutschlands Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) seien „die Grenzen der Belastbarkeit erreicht“. Allein am Wochenende waren aus Österreich mehr als 15.000 Flüchtlinge nach München gekommen.

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