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Vertrieben durch den Bürgerkrieg

Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen wollen, könnte weitaus größer sein als bisher gedacht. Der Nahost-Direktor des UNO-Kinderhilfswerks UNICEF, Peter Salama, sagte am Freitag, Millionen weitere Syrer könnten zu Flüchtlingen werden und sich auf den Weg nach Europa machen.

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In den über vier Jahren Bürgerkrieg wurden in Syrien bisher schätzungsweise 250.000 Menschen getötet, elf Millionen befinden sich auf der Flucht. Die Zahl der aus Syrien fliehenden Menschen könnte auch nach Einschätzung des UNO-Sondergesandten Staffan de Mistura noch einmal drastisch zunehmen. Sollte sich der Bürgerkrieg auf das Gebiet des bisher weitgehend vom Konflikt verschont gebliebenen Latakia ausweiten, sei mit bis zu einer Million zusätzlicher Flüchtlinge aus der Provinz zu rechnen, sagte der Diplomat Anfang der Woche in Brüssel.

Familie sitzt vor der zerbombten Fassade eines Hauses in Aleppo

Reuters/Abdalrhman Ismail

Eine Ruine in der syrischen Stadt Aleppo

Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR forderte die EU zur Errichtung großer Erstaufnahmezentren an ihren Außengrenzen auf. Solche Einrichtungen sollten unverzüglich in Griechenland, Italien und Ungarn entstehen, erklärte das UNHCR am Freitag in Genf.

Orban droht mit „Krisenfall“

Sollte Ungarn in der kommenden Woche den Krisenfall ausrufen, soll jeder illegale Einwanderer „sofort verhaftet“ werden. Das erklärte Ministerpräsident Viktor Orban am Freitag in Budapest nach einem Treffen mit dem deutschen EVP-Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber. „Wir werden sie nicht mehr höflich begleiten wie bisher.“ Orban und Weber betonten, dass die EU ihre Außengrenze schützen müsse.

Am Dienstag will Ungarns Kabinett entscheiden, ob der Krisenfall ausgerufen wird. Am 21. September soll dann das Parlament darüber abstimmen, ob in einem solchen Krisenfall künftig das Militär die Grenzschützer unterstützen darf. Mittlerweile wurden 3.800 ungarische Soldaten zu den Bauarbeiten am Zaun an der serbischen Grenze abkommandiert.

Orban machte Griechenland für die aktuelle Flüchtlingskrise verantwortlich. „Wenn Griechenland seine Außengrenzen nicht schützt, müssen wir es tun“, sagte er. In Ungarn könnten bis Ende des Jahres 400.000 bis 500.000 Flüchtlinge ankommen, sagte Außenminister Peter Szijjarto nach einem Treffen mit seinen Kollegen aus Deutschland, Polen, Tschechien und der Slowakei in Prag.

Andrang in Mazedonien immer größer

Mazedonien kämpft unterdessen mit einem neuen Andrang von Schutzsuchenden, die das Land aus Griechenland kommend Richtung Serbien durchqueren. Innerhalb von nur zwölf Stunden - zwischen Donnerstagabend 18.00 Uhr und 6.00 Uhr Freitagfrüh - trafen 7.600 Flüchtlinge in Mazedonien ein, teilte eine Mitarbeiterin des UNHCR laut der serbischen Nachrichtenagentur Tanjug mit.

Syrische Flüchtlinge auf dem Weg zur griechischen Grenze nach Mazedonien

Reuters/Yannis Behrakis

Menschen gehen von Griechenland aus Richtung Mazedonien

Auch in Serbien steigt die Zahl weiter. Freitagfrüh wurden 10.000 Menschen in den zwei wichtigsten Aufnahmezentren an der Süd- und an der Nordgrenze des Landes zu Ungarn gezählt. In den Flüchtlingslagern Presevo an der serbisch-mazedonischen Grenze und in Kanjiza an der Grenze zu Ungarn hielten sich jeweils rund 5.000 Flüchtlinge auf. In den kommenden Tagen wird mit einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen gerechnet.

„Probleme“ wegen neuen ungarischen Gesetzes

In Serbien wurden nach Worten von Ministerpräsident Aleksandar Vucic allein am Donnerstag 5.540 neu angekommene Flüchtlinge registriert, seit Jahresbeginn mehr als 130.000. Gegenüber dem staatlichen TV-Sender RTS meinte Vucic am Donnerstagabend auch, dass das Land nach dem Inkrafttreten des neuen ungarischen Gesetzes mit „zahlreichen Problemen“ rechne. Die Flüchtlinge, die sich derzeit in Serbien im Schnitt zwischen drei und fünf Tagen aufgehalten hätten, dürften danach notgedrungen ihren Aufenthalt verlängern. Vucic zeigte sich aber überzeugt, dass sein Land dieses Problem bewältigen könne. Die serbischen Behörden würden keine Zäune errichten, sondern ihren Teil der Verantwortung übernehmen, unterstrich Vucic erneut.

Menschen schlafen auf dem Boden in Athen

Reuters/Paul Hanna

Schlafende Flüchtlinge im Zentrum von Athen

Robert Kozma von der nicht staatlichen Organisation Grupa 484 hat unterdessen auf die Notwendigkeit hingewiesen, in der serbischen Hauptstadt Belgrad möglichst rasch ein Unterkunftszentrum für Flüchtlinge zu errichten. Das im Vorort Krnjaca liegende Aufnahmelager befindet sich abseits der Flüchtlingsroute. Die meisten in Belgrad eingetroffenen Flüchtlinge wollten sich daher trotz Regens und stark gesunkener Temperaturen auch am Donnerstag nicht dorthin begeben. Zwei zentral gelegene Parkanlagen blieben ihre Unterkunft.

Video zeigt „Fütterung“

Für Aufregung sorgt derzeit ein Video. Österreichische Aktivisten beklagen einen unmenschlichen Umgang mit Flüchtlingen im größten ungarischen Auffanglager Röszke. Sie veröffentlichten ein Video, das zeigt, wie Polizisten in Röszke Tüten mit Semmeln in die wartende Menge werfen. „Es erinnerte an die Fütterung von Tieren in ihrem Gehege, wie Guantanamo in Europa“, sagte Klaus Kufner, dessen Mitstreiterin Michaela Spritzendorfer die Essensausgabe in dem Lager am Mittwoch heimlich gefilmt hatte.

Auf den Aufnahmen ist zu sehen, wie etwa 150 Flüchtlinge dicht gedrängt in einem umzäunten Bereich warten, um mit Nahrung versorgt zu werden. „Es war unmenschlich, und es spricht für sich, dass sie (die Flüchtlinge, Anm.) sich nicht um das Essen geschlagen haben, obwohl sie offensichtlich sehr hungrig waren“, so Spritzendorfer. Die Aktivisten waren nach eigenen Angaben nach Röszke gereist, um Lebensmittel, Kleidung und Medikamente an die Flüchtlinge zu verteilen. Spritzendorfers Video wurde seit Donnerstagabend in Sozialen Netzwerken verbreitet.

Entspannung auf Lesbos

In Röszke trifft ein Großteil der Flüchtlinge von der sogenannten Balkan-Route eben über Griechenland, Mazedonien, Serbien ein, die Westeuropa erreichen wollen. Die Lage an dem Grenzübergang ist seit Tagen angespannt. Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge will via Österreich weiter Richtung Deutschland oder Skandinavien reisen.

Erleichterung auf der seit Wochen überfüllten griechischen Insel Lesbos: Wie die Behörden am Freitag mitteilten, sind in den vergangenen vier Tagen gut 29.000 Menschen zum Festland gebracht worden. Das berichtete das griechische Radio. Wie Augenzeugen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) sagten, ist der Hafen der Insel nicht mehr überfüllt.

Am Freitag kamen nach Angaben der Küstenwache mehr als 3.500 Flüchtlinge von Lesbos an Bord von zwei Fähren im Hafen von Piräus an. Damit werden täglich mehr Menschen aus Lesbos abgeholt, als aus der Türkei auf der Insel ankommen.

Ungarn verschärft Bedingungen

Auch Hilfsorganisationen erwarten in den kommenden Tagen weiter eine große Anzahl von Flüchtlingen. Da am Montag in Ungarn verschärfte Einwanderungsbestimmungen in Kraft treten, versuchen zahlreiche Menschen, noch vorher Ungarn Richtung Österreich zu durchqueren. Das umstrittene neue ungarische Einwanderungsgesetz sieht unter anderem Gefängnisstrafen von bis zu drei Jahren für alle vor, die den von Budapest an der Grenze zu Serbien errichteten Stacheldrahtzaun überwinden. Am Wochenende hatten insgesamt 15.000 aus Ungarn kommende Flüchtlinge die Grenze nach Österreich passiert. In den vergangenen Tagen hatte der Zustrom vorübergehend deutlich nachgelassen.

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