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Bilder einer Odyssee

Flüchtlinge sind in der aktuellen Debatte stets eine anonyme Masse - und von ihrer Flucht kennt man nur dramatische Momentaufnahmen: Prügeleien an der Grenze, Massenankunft auf dem Bahnhof, der Tod im Schlepper-Lkw. Doch die Flucht ist über Monate auch: Alltag - für Zehntausende von Menschen. Einer von ihnen hat seine Flucht gefilmt. „Am Schauplatz“ zeigt seine Geschichte.

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Laut den Vereinten Nationen (UNO) wurden seit 2011 in Syrien an die 250.000 Menschen getötet. Eine abstrakte Zahl? Nicht für Abdulmajid Raslan. Der junge Syrer hielt die Gräuel des Krieges für internationale Fernsehsender fest. Noch nie hat man diesen Krieg so unmittelbar erlebt wie in einer seiner Aufnahmen:

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Der Moment, wenn die Bomben fallen

Man sieht den Jet kommen, eine quälende Minute lang. Er feuert zwei gleißend helle Störgeschoße ab, mit denen Raketen abgewehrt werden sollen. Und dann: Vier Bomben werden abgeworfen.

Der Kameramann, 26 Jahre alt, läuft davon, er fürchtet um sein Leben. Dann, ohrenbetäubend: der Einschlag, in rund 200 Metern Entfernung. Eine Minute später: Ein regungsloser Bub mit blutenden Wunden am Kopf wird aus den Trümmern des Hauses geborgen, wo die Bombe eingeschlagen hat. Raslan hält die Kamera drauf.

Filmausschnitt aus der ORF-Sendung "Am Schauplatz"

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Nur weg: die erste Station einer Flucht

Verfolgt von IS und Assad-Truppen

Die Bombe schlug nicht irgendwo ein, sondern in der Straße, in der Raslan lebt. Auch das Haus der Familie wurde zerstört. Er brachte gemeinsam mit seinem Vater seine schwangere Frau, seine Mutter und seinen Bruder in Sicherheit, in ein Lager an der syrischen Grenze in der Türkei. Raslans Vater war früher, als noch alles gut war, Kaufmann gewesen, aber die Bomben zerstörten sein Geschäft. Er begleitete fortan als Tonmeister seinen Sohn bei dessen gefährlichen Aufnahmen im Gefolge der Freien Syrischen Armee.

Bald schon wurden die beiden sowohl vom IS als auch von den Regierungstruppen wegen ihrer Aufnahmen verfolgt. Ein Heckenschütze traf den Vater in den Kopf - aber das Projektil konnte nicht ganz eindringen, weil der Schuss aus großer Entfernung abgegeben worden war. Die Wunde ist dennoch bis heute deutlich zu sehen. Raslan und sein Vater begaben sich auf die Flucht Richtung Europa mit dem Ziel, später die Familie auf sicherem Wege nachzuholen. Eine mehrmonatige Odyssee begann.

Filmausschnitt aus der ORF-Sendung "Am Schauplatz"

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Der Alltag einer Flucht: frieren und herumlungern

Neue Kleidung und Menschenwürde

Eine Odyssee, die Raslan mit der Kamera festhielt. In Istanbul gibt es ein Viertel namens Aksarai, wo man an jeder Ecke angesprochen wird, von Schleppern, die ihre Dienste für 3.000 bis 10.000 Euro anbieten. Um 1.000 Euro bekamen Raslan, sein Vater und sein Cousin einen Transfer Richtung Griechenland, in einem überfüllten Schlauchboot von „extrem schlechter Qualität“ mit viel zu schwachem Motor, wie der Vater erzählt.

Filmausschnitt aus der ORF-Sendung "Am Schauplatz"

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Die eigene Tochter kannte Raslan nur von Skype

Weiter Richtung Österreich. Warum liegen entlang den Fluchtrouten Kleidungsstücke herum? Warum sehen die Flüchtlinge, wenn sie im Westen ankommen, nicht so verarmt und verdreckt aus, wie man meinen sollte? Die drei Männer erklären es. Man will sich nicht gehen lassen, seine Menschenwürde nicht aufgeben. Sie gingen noch im Hafen zum Friseur. Auf der Flucht quer durch mehrere Länder war es nirgends möglich, Wäsche zu waschen. Also kauften sie neue Kleidung und warfen die alte weg. Nur nicht abstoßend wirken, dort, wo man aufgenommen werden will.

Ein rettender Kater

Aber das Geld wurde knapp, weil ein Schlepper 2.000 Euro kassierte, dann beim vereinbarten Treffpunkt nicht auftauchte und verschwunden blieb. Zu Fuß mussten es die Männer auf eigene Faust versuchen. Raslans Aufnahmen berühren, aber sie zeigen auch den schnöden Alltag der Flucht. Tagelang warten, schlafen in Abbruchhäusern und Windschutzgürteln. Zu zweit in einen Schlafsack gezwängt, frierend bei minus sieben Grad in Mazedonien. Immer wieder von der Polizei abgefangen werden.

Filmausschnitt aus der ORF-Sendung "Am Schauplatz"

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Endlich: die herbeigesehnte Zusammenkunft mit der Familie

Einmal sah es so aus, als ob die Bemühungen, nach Österreich kommen, gescheitert wären. Aber die serbische Polizeitruppe, von der sie aufgegriffen wurden, hatte in der Nacht davor eine Party gefeiert und wollte sich die Registrierungsprozedur nicht antun. So schafften es die drei Männer doch noch bis nach Österreich, wo sie zuerst in Traiskirchen landeten und dann ins steirische Mürzzuschlag transferiert wurden.

Das Wiedersehen

Es folgten wieder: Monate des Wartens. Mittlerweile hatte Raslans Frau Kamar ihr Baby bekommen. Raslan kannte die kleine Mira nur vom Skypen. Sein größter, drängendster Wunsch war es, sie in die Arme schließen zu können. Als der Asylbescheid endlich da war, machten er und sein Vater sich auf, um den Rest der Familie nachzuholen. In der Türkei fand das ersehnte Treffen statt. Die Tochter weinte - ihr Vater war ein Fremder für sie. Raslan und seine Frau lagen einander in den Armen, es sind berührende Szenen, die hier zu sehen sind.

Aber der Vater berichtet auch von einer Entfremdung, die in der Zwischenzeit stattgefunden hatte. Lange waren die Männer von den Frauen getrennt. Und das Nachholen klappte nicht so, wie es sollte, weil die Frauen keine ordentlichen Papiere hatten. Die Männer kehrten alleine wieder nach Wien zurück. Raslan sucht in der Zwischenzeit eine Wohnung, die für die ganze Familie groß genug ist. Aber 700 Euro plus Strom und Gas, das kann er sich nicht leisten. Er, seine Frau, seine Tochter, sein Bruder und sein Vater: Sie alle sind in Sicherheit. Aber was ein Happy End betrifft, heißt es, wie so oft für Flüchtlinge: bitte warten.

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