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„Sollen wir die Grenzen nun schützen?“

Ungarn hat Österreich und Deutschland aufgerufen, die Grenzen dichtzumachen. Die beiden Länder sollten außerdem „klar sagen“, dass keine weiteren Flüchtlinge mehr aufgenommen werden, da ansonsten weiterhin „mehrere Millionen“ Menschen nach Europa kommen würden, erklärte der ungarische Regierungschef Viktor Orban Sonntagabend gegenüber der ZIB.

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Am Wochenende hatten insgesamt 15.000 aus Ungarn kommende Flüchtlinge die Grenze nach Österreich passiert. Ein Großteil davon sei umgehend nach Deutschland weitergereist, wie ein Sprecher des Innenministeriums am Sonntagabend bestätigte. Lediglich 90 Personen davon beantragten in Österreich Asyl. Ungarn hatte am Freitagabend entschieden, seit Tagen festsitzende Flüchtlinge mit Bussen an die österreichische Grenze zu bringen. Österreich und Deutschland erklärten sich daraufhin bereit, die Flüchtlinge ein- beziehungsweise durchreisen zu lassen.

„Problem liegt nicht auf unserer Seite“

Den Entschluss, die Flüchtlinge ein- und weiterreisen zu lassen, kritisierte Orban scharf: Die Einreise in die EU ohne Papiere entspreche nicht den Regeln. Ein Großteil der Migranten seien ohnehin Wirtschaftsflüchtlinge, so Orban. Ungarn habe ausreichend „finanzielle und polizeiliche Kraft“, für alle Schutzsuchenden Verpflegung und Unterkunft zur Verfügung zu stellen - doch würden ohnehin alle nach Deutschland wollen. „Das Problem liegt nicht auf unserer Seite“, insistierte der Ministerpräsident einmal mehr.

Viktor Orban im Interview

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hat ORF-Korrespondent Ernst Gelegs ein Exklusivinterview zur Flüchtlingskrise gegeben.

Auf die Frage, ob die ungarischen Soldaten an der Grenze zu Serbien einen Schießbefehl hätten, antwortete Orban: „Das ist nicht nötig, weil es an der Grenze einen Zaun geben wird, den man nicht überwinden kann.“ Für Ungarn habe der Schutz der Grenzen „oberste Priorität“, sagte der ungarische Außenminister Peter Szijjarto, der vor allem die Kritik von Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) an der Flüchtlingspolitik seines Landes „nicht nachvollziehen“ kann.

Einerseits ermahne Faymann Ungarn, „die Flüchtlinge nicht nach Österreich durchzuwinken und alle zu registrieren“, anderseits kritisiere er den Bau des Grenzzaunes, sagte Szijjarto gegenüber dem „Standard“ (Montag-Ausgabe). „Man sollte sich entscheiden, was man will: Sollen wir die Grenzen nun schützen oder alle durchlassen?“

„Grenzverteidigung“ als europäische „Solidarität“

„Für uns bedeutet Solidarität, dass wir unsere Grenzen verteidigen, um den Druck von uns allen zu nehmen“, deshalb schütze man sie auch, so Szijjarto. Die technische Sperre sei soeben erst fertiggestellt worden, jetzt soll eine höhere Sicherheitssperre errichtet werden. „Das Ziel mit dem Zaun ist es, die Migranten zu den legalen Grenzstellen zu führen“, führte Szijjarto aus. Zudem sollen Menschen in „drei Transitzonen an der serbischen Grenze“ Asylanträge stellen können.

Junge Flüchtlinge in einem Zug in Nickelsdorf

Reuters/Leonhard Foeger

Junge Flüchtlinge in einem Zug in Nickelsdorf am Sonntag

In diesem Jahr hätten von 167.000 illegal eingereisten Migranten 150.000 einen Asylantrag in Ungarn gestellt. „Im Schnitt erhalten neun Prozent der Antragsteller bei uns Asyl“, schätze Szijjarto. Ein Großteil von ihnen würde aber das Land vor Verfahrensende verlassen. Eine verpflichtende Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU, wie etwa die EU-Kommission, Deutschland und Österreich das verlangen, sei „keine gute Idee“: Allein die Diskussion darüber werde von Migranten und Schleppern als Einladung verstanden.

Klage über „dürftige“ Informationen aus Ungarn

Am Sonntag hatte sich die Lage in Ungarn leicht entspannt. Bis zum frühen Abend wurden laut offiziellen Angaben 1.459 Migranten aufgenommen, die über Serbien gekommen waren. Am Samstag war mit nur 1.002 ankommenden Flüchtlingen ein Monatstiefststand erreicht worden. Die Polizei führte das auf die Witterung zurück. Seit Wochen waren 1.500 bis 3.000 neue Flüchtlinge pro Tag die Regel.

Flüchtlinge in Dortmund

AP/Martin Meissner

Flüchtlinge bei ihrer Ankunft im deutschen Dortmund

Laut Informationen aus dem Umfeld der ungarischen Behörden sollen sich 5.000 bis 7.000 Flüchtlinge an der ungarisch-serbischen Grenze aufhalten. Die Informationslage aus Ungarn von behördlicher Seite sei allerdings „relativ dürftig“, sagte Innenministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck am Sonntagabend. Deshalb gebe es „wenig Grundlage, um seriöse Einschätzungen“ über die kommenden Entwicklungen geben zu können.

Nickelsdorf: Lage hat sich weiter beruhigt

Die Nacht auf Montag ist an der österreichisch-ungarischen Grenze erneut relativ ruhig verlaufen. 260 Flüchtlinge sind am Abend noch in Nickelsdorf angekommen und versorgt worden - mehr dazu in burgenland.ORF.at. Alle, die bis Sonntagabend ankamen, seien bereits weitergereist, so Landespolizeidirektor-Stellvertreter Werner Fasching. „Es ist so, dass offensichtlich das Meiste vorbei ist“, so Fasching. Ungarn würde keine Busse mehr zur Grenze schicken. Er erwarte jedoch auf lange Sicht einen „Nachzug“ von bis zu 3.000 Flüchtlingen täglich.

Davutoglu: EU-Beitrag „lächerlich“

Unterdessen kritisierte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu den Beitrag der EU zur Bewältigung der Flüchtlingskrise als viel zu gering. Die EU habe einen „lächerlich geringen Anteil“ an den Maßnahmen zur Bewältigung der weltweiten Flüchtlingskrise, schrieb Davutoglu in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Montag-Ausgabe). Sein Land hingegen habe allein aus Syrien und dem Irak mehr zwei Millionen Menschen aufgenommen und damit „auf wirksame Weise eine Pufferzone zwischen dem Chaos und Europa“ hergestellt.

Davutoglu kritisierte in diesem Zusammenhang auch den geringen finanziellen Beitrag, den die EU bisher zur Unterstützung der Türkei geleistet habe. Es gebe offenbar den „bequemen Reflex“, die Probleme auf die Schultern der Türkei zu laden und eine „christliche Festung Europa“ zu errichten. Das könne zwar „jenen reizvoll erscheinen, die nichts von der europäischen Geschichte verstanden haben, aber das wird nicht funktionieren“, warnte der türkische Regierungschef in seinem Beitrag. Ein solches Vorgehen widerspreche auch europäischen Werten.

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