„Welches Europa wollen wir?“
Weit über 10.000 Flüchtlinge sind von der Caritas auf dem Wiener Westbahnhof betreut worden, seit Ungarn in der Nacht auf Samstag von seiner Politik der Abriegelung abgegangen ist beziehungsweise das aufgrund des steigenden Drucks tun musste. Für Caritas-Generalsekretär Klaus Schwertner war die Hilfeleistung wegweisend. „Der Westbahnhof könnte ein Vorbild für ganz Europa werden“, sagte er am Sonntag.
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Vorbildhaft ist für Schwertner nicht nur die erlebte Hilfsbereitschaft, sondern auch, wie sich diese organisierte. Es habe sich gezeigt, „dass die Aufgabe gemeinsam bewältigbar ist“, meinte er bei der Pressekonferenz zur Zwischenbilanz der bisher geleisteten Hilfe. Obwohl inzwischen wegen „Zigtausender Spenden vorübergehend ein Sachspendenstopp ausgerufen“ habe werden müssen, sei Hilfe weiterhin dringend nötig, betonte Schwertner dabei.
„Ein Stück Geschichte geschrieben“
160 Freiwillige seien nun damit beschäftigt, im Sachspendenlager Hygiene- und Essenspakete zu schnüren, erklärte Schwertner. Via Facebook („Wir helfen“), Twitter und anderen Sozialen Medien hält die Hilfsorganisation aber darüber auf dem Laufenden, welche Form der Hilfe zum jeweiligen Zeitpunkt am dringendsten gebraucht wird. Auch die Stadt Wien hat inzwischen Plattformen geschaffen, um die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung in die jeweils benötigten Bahnen zu lenken - mehr dazu in wien.ORF.at.

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Flüchtlinge auf dem Wiener Westbahnhof am Sonntag
Caritas-Präsident Michael Landau lobte den „guten Grundwasserspiegel an Solidarität“ in Österreich. „Viele Menschen haben gespürt, dass in den vergangenen Tagen ein Stück europäische und österreichische Geschichte geschrieben wird. Europa steht an einem Scheideweg. Leben oder Tod - welches Europa wollen wir?“, fragte er und forderte sichere und legale Zugänge zum Asylverfahren sowie einen Schulterschluss von Bund, Ländern, Gemeinden und Zivilgesellschaft.
Nun wieder Fokus auf die, die bleiben
Neben der Hilfe für Tausende Flüchtlinge auf der Durchreise vor allem nach Deutschland gehe es weiterhin um jene, die in Österreich Schutz suchten, betonte Schwertner. „Bitte unterstützen Sie die Caritas Flüchtlingshilfe, sodass wir rasch weitere Quartiere eröffnen können“, appellierte der Generalsekretär an die Bevölkerung. Neben den gewohnten Spendenwegen könne man auch bei einer eigens eingerichteten Stelle der Caritas auf Bahnsteig zehn des Westbahnhofes Spenden abgeben.
Bis August hat die Caritas nach eigenen Angaben rund 17.000 Flüchtlinge versorgt, davon 5.000 selbst als Quartiergeber und 12.000 mobil in Unterkünften anderer, vor allem der Gebietskörperschaften. „Die Caritas betreut damit knapp ein Drittel aller Asylwerber in Österreich. Aber das ist nichts, worauf wir uns ausruhen können“, sagte Landau. Die Bereitstellung 1.200 weiterer Grundversorgungsplätze etwa in den Klostern Forchtenstein, Maria Lanzendorf und Breitenfurt sei in Vorbereitung.
Großteil nach Deutschland weitergereist
Wie das Innenministerium am Montag unterdessen bekanntgab, kamen im Rahmen der als „Sondersituation“ bezeichneten Öffnung der Grenzen zwischen Freitagnacht und Montagfrüh knapp 16.000 Personen über die ungarische Grenze nach Österreich. Rund 15.000 reisten nach Deutschland weiter. „Wenige hundert“ sind noch in Österreich, die meisten dürften aber ebenfalls noch die Fahrt Richtung deutscher Grenze antreten.
Wie viele der Flüchtlinge in Österreich um Asyl ansuchten, gab das Innenministerium auf APA-Anfrage nicht bekannt. Es handle sich um eine niedrige dreistellige Zahl. Einen merkbaren Anstieg der Anträge übers Wochenende gab es demnach nicht.
ÖBB kehren zu Regelbetrieb zurück
Die Nacht auf Montag verbrachten noch rund 900 Flüchtlinge in Bahnhöfen und Zügen der ÖBB. „Etwa 100 Personen schliefen auf dem Wiener Hauptbahnhof und 200 in Zügen auf dem Salzburger Hauptbahnhof“, sagte ÖBB-Sprecher Michael Braun. Vom Wiener Westbahnhof, wo 600 Flüchtlinge im Notquartier übernachteten, fuhr um 9.40 Uhr ein Sonderzug ab. Zwischen Wien und Budapest gab es wieder regulären Zugverkehr.
Am Montag waren Braun zufolge noch drei Sonderzüge Richtung Westen geplant. Die Zahl könne sich jedoch situationsbedingt ändern. Bei Bedarf soll außerdem wieder ein Shuttlezug zwischen Nickelsdorf und Wien verkehren. Die ÖBB seien weiter von kurzfristigen Entscheidungen in Ungarn abhängig. „Wir rechnen damit, dass uns das Thema Flüchtlinge auch noch in den kommenden Tagen beschäftigt“, hielt Braun fest.

APA/Herbert P. Oczeret
Flüchtlinge besteigen Busse in Nickelsdorf am Sonntag
Die ÖBB konnten dennoch bereits am Sonntagnachmittag wieder zum Regelbetrieb zurückkehren. Die Lage habe sich stabilisiert, wie ÖBB-Sprecherin Sonja Horner bereits am Sonntag sagte. Sie bestätigte dabei außerdem, dass Flüchtlinge auch ohne Ticket in ÖBB-Züge einsteigen dürften. ÖBB-Chef Christian Kern hatte in einer Sonder-ZIB in der Nacht auf Sonntag darauf hingewiesen, dass die Ticketfrage „pragmatisch“ gelöst werde: „Die Menschen haben nur das Nötigste, da ist es sinnvoll, bei der Kontrolle ein Auge zuzudrücken.“
Appell zur Hilfe in Syriens Nachbarländern
Um die Flüchtlingskrise zu entschärfen, gilt es laut Christoph Schweifer, Generalsekretär der Caritas-Auslandshilfe, allerdings über Europa hinauszudenken: Vor allem müsse die Situation in den Nachbarländern Syriens stabilisiert werden. „Wir können nicht einfach den Krieg in Syrien beenden. Was die Staatengemeinschaft aber sehr leicht tun kann, ist, die Hilfe in den Nachbarländern Syriens nachhaltig zu sichern“, so Schweifer. Solange das nicht der Fall sei, „werden sich Menschen auf den Weg machen, um eine sichere Zukunft für sich und ihre Familie zu finden“.
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