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„Das ist ein Notfall“

Österreich und Deutschland erlauben aus Ungarn kommenden Flüchtlingen die Einreise. Das erklärte Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) Freitagnacht nach einem Gespräch mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orban. Die Entscheidung sei „aufgrund der heutigen Notlage an der ungarischen Grenze“ gefallen, hieß es aus dem Kanzleramt.

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Sie sei zudem in Abstimmung mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel getroffen worden. Zuvor hatte man sich stundenlang bemüht, zusammen mit Deutschland eine Lösung zu finden. „Im Übrigen erwarten wir, dass Ungarn seinen europäischen Verpflichtungen, einschließlich der Verpflichtungen aus dem Dubliner Abkommen, nachkommt“, stellte der Bundeskanzler klar.

Ungarn hatte zuvor in einer weiteren politischen Volte in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise entschieden, die Flüchtlinge von Budapester Bahnhof Keleti sowie jene, die sich über die Autobahn M1 zu Fuß in Richtung Österreich aufgemacht hatten, mittels Bussen an die österreichische Grenze (Grenzübergang Hegyeshalom) zu transportieren. Kanzleiminister Janos Lazar erklärte am Freitag, ein Parlamentsausschuss habe das am Abend beschlossen.

Bustransfers noch in der Nacht angelaufen

Unmittelbar nach der Entscheidung wurden in der Nacht auf Samstag 60 Busse am Keleti-Bahnhof in Budapest zu Verfügung gestellt und Flüchtlinge in Richtung Grenze gefahren. Augenzeugen sprachen gegenüber der Agentur Reuters von erleichterten Menschen, die sich vor dem Einsteigen noch bei den freiwilligen Helfern bedankten. 30 Busse kamen zur Autobahnausfahrt im ungarischen Zsambek, berichteten ungarische Medien. Dort machten Hunderte Flüchtlinge Rast, die zuvor zu Fuß aus Budapest Richtung Westgrenze aufgebrochen waren.

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Busse mit Flüchtlingen unterwegs

Nach der Ankündigung Ungarns, Flüchtlinge mit Bussen an die österreichische Grenze überstellen zu wollen, hat Österreich angekündigt, den Flüchtlingen die Einreise zu erlauben.

An beiden Schauplätzen waren viele Migranten laut mehreren Medienberichten sehr misstrauisch, ob die Busse sie wirklich an die Grenze und nicht in ein Flüchtlingslager bringen. Am Vortag hatten Ungarns Behörden Flüchtlinge in einen vermeintlich zur Grenze fahrenden Zug gelockt, der dann von der Polizei in der Nähe eines Flüchtlingslagers gestoppt wurde, wohin die Migranten gegen deren Willen gebracht werden sollten.

„Machen Grenzen nicht dicht. Das ist ein Notfall“

Faymann sagte gegenüber Ö3, er habe mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel beschlossen, „dass wir die Grenzen nicht dicht machen, sondern auf. Das ist ein Notfall.“ Berlin bestätigte die Entscheidung. Die meisten Flüchtlinge würden wohl nach Deutschland weiterreisen, meinte Faymann gegenüber Ö3. Manche könnten aber wohl in Österreich bleiben. „Und das ist auch gut so“, erklärte der Regierungschef.

Flüchtlinge

Reuters/Leonhard Foeger

Sichtlich erschöpfte Kriegsflüchtlinge in einem der Busse

„Ungarn muss Bereitschaft zeigen“

„Wir werden die Menschen in dieser Notsituation nicht im Stich lassen“, hieß es zuvor aus dem Bundeskanzleramt gegenüber dem ORF. Faymann stellte zudem fest: „Zugleich aber erwarten wir von Ungarn die Bereitschaft, die bestehenden Belastungen auf der Basis der von der Europäischen Kommission angestrebten fairen Verteilung der Flüchtlinge und des geplanten Notfallmechanismus zu lösen, zu dem wir heute einen Beitrag leisten.“

Die Dublin-Verordnung sei durch die wegen der „Notlage“ getroffene Entscheidung, den Flüchtlingen aus Ungarn die Weiterreise nach Österreich und Deutschland zu ermöglichen, nicht außer Kraft gesetzt, hieß es. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hatte zuvor per Aussendung klargestellt, dass Österreich weiter an den Dublin-Regeln festhalte. Diese sehen vor, dass derjenige EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig ist, in dem ein Flüchtling erstmals europäischen Boden betritt.

„Jeder kann Asylantrag stellen“

Fest stehe aber auch, „dass jeder Flüchtling in Österreich einen Asylantrag stellen kann“, so Mikl-Leitner. „Es wird bei jedem Asylantragsteller geprüft, ob er bereits in einem anderen Land registriert wurde, und gegebenenfalls zurückgebracht.“

Jetzt stehe „die Gesundheit der Flüchtlinge und ihre Versorgung im Vordergrund“. Der polizeiliche Umgang mit jenen Menschen, die keinen Asylantrag stellen, weil sie in ein anderes Land wollen, sei ebenso klar geregelt. Bei allen Handlungen der Polizistinnen und Polizisten gelte aber jedenfalls das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.

Aber: „Wenn sich diese Menschen nicht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit registrieren lassen und Gewalteskalationen drohen, weil sie grundsätzlich friedlich nach Deutschland weiterziehen wollen, dann werden sich ihnen unsere Polizistinnen und Polizisten nicht mit Gewalt entgegenstellen. Wir kämpfen gegen Schlepper und nicht gegen Familien und Kinder“, so Mikl-Leitner.

Gespräch Faymann - Orban vorgezogen

Ein Gespräch zwischen Faymann und Ungarns rechtsnationalen Premier Viktor Orban war an sich für Samstagfrüh geplant gewesen. Aufgrund der aktuellen Ereignisse telefonierten die beiden Regierungschefs aber schon am Freitagabend miteinander. Die Flüchtlingskrise in Ungarn hatte sich zuvor weiter zugespitzt. Vom Budapester Ostbahnhof aus marschierte ein langer Zug von Migranten in Richtung Westgrenze.

Menschenmenge auf der Autobahn in Richtung Österreich

Reuters/Laszlo Balogh

Viele Kriegsflüchtlinge waren bereits am Freitagnachmittag sehr erschöpft

800 bis 3.000 Flüchtlinge

Insgesamt war in Ungarn die Rede von 100 Bussen, die die Flüchtlinge an die österreichische Grenze bringen sollten. Als einen der Hautgründe für die Entscheidung nannte Kanzleiminister Lazar, dass der Verkehr auf der Autobahn nicht in den nächsten 24 Stunden zum Erliegen kommen solle. Auch wolle man die Verkehrssicherheit für die ungarische Bevölkerung aufrechterhalten, hieß es.

Österreichs Polizei und das Rote Kreuz seien auf die Ankunft der Flüchtlinge vorbereitet, erklärte das Innenministerium in einer Aussendung. Bei Roten Kreuz rechnete man noch in der Nacht mit der Ankunft von 800 bis 1.500 Flüchtlingen. Die Polizei im Burgenland erwartet bis zu 3.000 Menschen. „Wir sind darauf vorbereitet“, so Landespolizeidirektor-Stellvertreter Werner Fasching. Nach der Erstversorgung folge eine Befragung, ob sie Asyl in Österreich wollen. „Wenn dem so ist, dann werden wir sie in eine unserer Aufarbeitungsdienststellen bringen.“ Wenn sie nicht um Asyl ansuchen, werde man sie weiter nach Wien bringen.

Hunderte auf dem Weg Richtung Österreich

Freitagmittag hatten sich mehr als tausend Migranten verzweifelt zu Fuß in Richtung Westen aufgemacht - von Budapest bis zur Grenze sind es über 170 Kilometer. Im ungarischen Fernsehen war zu sehen, wie Autos an den marschierenden Flüchtlingen vorbeifuhren. Angeführt wurden sie von einem Mann mit EU-Flagge. Teilnehmer des Marsches spreizten die Finger zum Siegeszeichen, andere schwenkten Bilder der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Auch in der Nacht waren die Flüchtlinge noch unterwegs.

Menschenmenge bewegt sich vom Hauptbahnhof in Budapest weg

APA/AP/Frank Augstein

Hunderte marschierten vom Bahnhof Keleti los

„Ungarn ist sehr schlecht, wir müssen irgendwo hin“

„Wir sind sehr froh, dass etwas passiert“, wurde ein Flüchtling aus Syrien von der Nachrichtenagentur AFP am Nachmittag zitiert. „Der nächste Halt ist Österreich. Die Kinder sind sehr müde. Ungarn ist sehr schlecht, wir müssen irgendwo hin“, sagte er. „Wir gehen, wir können hier nicht bleiben, mit dem Zug geht es für uns nicht weiter“, sagte ein anderer syrischer Flüchtling, bevor sich er und Hunderte andere auf den langen Weg machten.

Beobachter sprachen von großer Erschöpfung bei einigen Flüchtlingen, viele hätten Hunger und Durst. Über den Kurzmitteilungsdienst Twitter verbreiteten sich viele Bilder und Nachrichten zu dem Flüchtlingsmarsch.

Flüchtlinge von Hooligans attackiert

Auch dem Ostbahnhof in Budapest, wo sich am Abend immer noch Hunderte Flüchtlinge aufhielten, konnte die Polizei nach Angaben der ungarischen Nachrichtenagentur MTI einen Angriff ungarischer Fußballhooligans auf Flüchtlinge gerade noch verhindern. Fotos, die in Sozialen Netzwerken kursieren, sollen indes zeigen, wie die Hooligans Flüchtlinge mit Steinen bewerfen.

Eine Gruppe Flüchtlinge habe etwas in arabischer Sprache skandiert, die Rechtsradikalen hätten mit nationalistischen Parolen reagiert. Auch Feuerwerkskörper seien zu hören gewesen, berichtete MTI. Schlussendlich sei es der Polizei gelungen, die beiden Gruppen getrennt zu halten. Die Hooligans hatten sich im Vorfeld des Fußballspiels zwischen Ungarn und Rumänien auf dem Bahnhof versammelt.

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