Der Film, den Russland nicht sehen soll
Mit „Kind 44“ hat der britische Autor Tom Rob Smith 2008 einen Romanbestseller über die verhängnisvolle Aufklärung einer mysteriösen Mordserie in der Sowjetunion der 1950er Jahre geschrieben. Nun kommt die Hollywood-Verfilmung des Action-Thrillers in die heimischen Kinos, in der Regie von Daniel Espinosa und mit durchwegs prominenter Besetzung.
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Leo Demidow (Tom Hardy) hat alles richtig gemacht im Leben, scheint es. Als Waisenkind war er aus dem Heim geflohen, mitten in der ukrainischen Hungersnot von 1933, die „Holodomor“, also Tötung durch Hunger, genannt wird, weil sie, wie es heißt, vorsätzlich von Stalinisten herbeigeführt wurde, um den Widerstand der Ukrainer zu brechen. Leo fand Unterschlupf, Nahrung und eine neue Identität bei Soldaten im Wald, schloss sich ihnen an und ging schließlich als gefeierter Kriegsheld aus dem Zweiten Weltkrieg hervor.
Held mit Bruchstellen
Nach Kriegsende führte die steile Parteikarriere bis ins Ministerium für Staatssicherheit (MGB), wo er seither treu nach Parteilinie verhört und bespitzelt und durch seine Beweise und Anschuldigungen Existenzen vernichten kann. Privat führt er eine glückliche Ehe mit der schönen Raisa (Noomi Rapace) und bewohnt mit ihr eine schmucke, geräumige Stadtwohnung.

2013 Summit Entertainment, LLC
Tom Hardy als Geheimdienstmitarbeiter Leo Demidow
Doch dann wird Leos Patenkind, der achtjährige Sohn seines Geheimdienstkollegen, tot aufgefunden, der offizielle Bericht nennt ein Zugsunglück als Ursache, die Familie des Toten geht von einem Mord aus und verleitet Demidow zu Nachforschungen. Aber Mord und Verbrechen darf es im stalinistischen Paradies nicht geben, das bekommt Leo ebenso schnell zu spüren wie die unangenehmen Folgen eigenmächtiger Handlungen gegen das System.
Vom Parteisoldaten zum Staatsfeind
Rasch beginnt die Fassade seiner heilen Welt zu bröckeln: Zunächst erhält Demidow den Befehl, seine Frau Raisa zu bespitzeln, später soll er die eigene Wohnung auseinandernehmen bzw. zusehen, wie die Einrichtung von seinem Gegenspieler Wassili kurz und klein geschlagen wird – alles unter dem Deckmantel offizieller Ermittlungen gegen Staatsfeinde und Verräter. Schließlich wird er gemeinsam mit seiner Frau in die tiefste Provinz, ans andere Ende der Sowjetunion, versetzt.
Dort sollen sie, er als Milizsoldat und sie, die ehemalige Lehrerin, als Putzfrau, vor allem eines: Ruhe geben. Als im Dreck des Provinznests und der elenden Behausung Raisa auch noch gesteht, ihn damals nur aus Angst vor seiner Macht geheiratet zu haben, bricht die kommunistische Bilderbuchkarriere endgültig in sich zusammen.
Finstere Winkel sowjetischer Geschichte
Leo lernt, die Wahrheit des Systems als eine von vielen zu betrachten und sich auf seinen Instinkt statt auf Parteiprogramme zu verlassen. Mit Hilfe seines Vorgesetzten in der Provinz (Gary Oldman) und Raisas Unterstützung begibt er sich auf eine verzweigte Jagd nach dem Serienmörder und wird währenddessen seinerseits immer wieder von seinem Gegenspieler aus dem Ministerium gejagt und getrieben.
Vor dem Hintergrund dieser Verfolgungsjagden erzählt Smiths Roman die traumatische Geschichte des sowjetischen Volkes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er schildert die Verbrechen der 1930er Jahre und des Zweiten Weltkrieges als Keimzellen für spätere Gewalt, Delikte oder Lethargie: Irgendwann werden alle von der Vergangenheit eingeholt, die Frage ist, wie gut sie sich ihr zu stellen vermögen.
Düsteres Machtgefüge und späte Rache
Mit dieser Grundhaltung bringt Espinosa die Romanvorlage auch auf die Leinwand. Er zeichnet das Bild lethargischer, grau gewandeter Menschen mit starrem Blick, aber auch das Bild eines machtbesessenen und parteitreuen Offiziers, der als Entschädigung für die Entbehrungen der Kindheit jetzt mit Orden behängt und mit einer großzügigen Wohnung ausgestatten wird, solange er tut, was von ihm verlangt wird.

2013 Summit Entertainment, LLC
Der chilenisch-schwedische Regisseur Daniel Espinosa am Set
Hollywood-Action in tristem Grau
Wenn Hollywood nach Russland blickt und noch dazu die jüngere Vergangenheit des Landes in actionreichen Bildern aufzuarbeiten gedenkt, ist das Ergebnis zumeist mit Vorsicht zu genießen. Der von Riddley Scott produzierte Streifen bildet da keine Ausnahme. Wer von „Kind 44“ einen energiegeladenen Actionthriller erwartet, wird von der zeitweiligen Langsamkeit des Films enttäuscht sein, wer eine tiefgründige Abhandlung der jüngeren Geschichte der Sowjetunion erhofft, vielleicht ebenso. Espinosa bedient beide Seiten ausreichend, keine über Gebühr.
Dennoch schafft er zwischen urbaner Tristesse und einsamer Wildnis ein bemerkenswert vielschichtiges Bild. Durchgängig zeichnet Espinosa klassische Rollenbilder von Protagonisten und Antagonisten, innerhalb der Charaktere bleibt dennoch viel Raum für Schattierungen, die das großartige Ensemble zu zeigen weiß.
Kein Kinostart in Russland
Smiths Roman wurde in 36 Sprachen übersetzt und mit sieben Preisen ausgezeichnet. Die Verfilmung kam im April in die US-amerikanischen Kinos und sollte im selben Monat auch in Russland anlaufen. Doch einen Tag vor der Premiere wurde der Streifen wegen „Entstellung historischer Tatsachen“ abgesetzt. Vor allem rund um die Feiern zum 70. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland und des Endes des Zweiten Weltkrieges wolle man einen derartigen Film nicht zeigen, hieß es. Dem russischen Publikum ist damit kein Meisterwerk entgangen, aber ein solider, für Hollywood-Maßstäbe erstaunlich differenzierter Streifen über die Folgen des Krieges auch Jahrzehnte danach und über die Abgründe von Liebe, Macht und Moral.
Judith Hoffmann, ORF.at
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