Themenüberblick

Tusk für „faire Verteilung“

EU-Ratspräsident Donald Tusk hat sich dafür ausgesprochen, in der Union deutlich mehr Flüchtlinge umzuverteilen als bisher vorgesehen. Er forderte bei einem Treffen mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban am Donnerstag die „faire Verteilung“ von „mindestens 100.000 Flüchtlingen“ in Europa.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Die EU-Regierungen müssten die Flüchtlingskrise „ernsthaft angehen“, sagte Tusk. Er rief alle EU-Staats- und -Regierungschefs auf, „ihre Anstrengungen zu verdoppeln“ und „Solidarität“ mit den Staaten zu zeigen, die Hauptziel der Flüchtlinge seien.

„Solidarität und Eindämmung“

Gleichzeitig müsse Europa mehr tun, um seine Grenzen zu sichern, sagte Tusk weiter. „Wir müssen die Eindämmung der Migrationswelle ernsthaft angehen, indem wir unsere Grenzen stärken und uns die Schlüssel zu unserem Europa von Schmugglern und Mördern zurückholen.“ Aus seiner Sicht schlössen einander „die Herangehensweisen von Solidarität und Eindämmung“ nicht aus. Tusk warnte, es wäre „unverzeihlich“, wenn sich Europa in Verfechter der Eindämmung und Verfechter der Öffnung der Grenzen spalte.

UNO fordert mehr Solidarität

Der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, Antonio Guterres, appellierte an die EU, sich auf die Verteilung von bis zu 200.000 Flüchtlingen auf die Mitgliedsstaaten nach verbindlichen Quoten zu einigen. Zugleich müssten ausreichende Erstaufnahmezentren geschaffen werden: „Solidarität kann nicht allein in der Verantwortung einiger weniger EU-Staaten liegen.“

„Tief bewegt“ zeigte sich auch der britische Premier David Cameron, angesichts der Bilder eines ertrunkenen Flüchtlingsbuben aus Syrien. Großbritannien werde seiner moralischen Verantwortung nachkommen. Es wird erwartet, dass der Premier demnächst ankündigt, dass mehr Menschen aus Syrien aufgenommen werden. Zuletzt war Cameron zunehmend unter Druck geraten. Mehr als 330.000 Menschen hatten in Petitionen die britische Regierung aufgefordert, mehr Menschen Asyl zu gewähren.

Wie die Verteilung aussehen könnte

Pläne der EU-Kommission, 40.000 Flüchtlinge aus den Mittelmeer-Ländern Italien und Griechenland über verpflichtende Quoten auf alle EU-Staaten zu verteilen, waren im Juni am Widerstand mehrerer Länder gescheitert. Bisher haben sich die Mitgliedsländer nur auf die Zahl von 32.000 Menschen geeinigt. Eine Reihe von Staaten wollen sich gar nicht beteiligen. Dem „Welt“-Bericht zufolge sollen diese Länder zum Ausgleich in einen EU-Fonds einzahlen, mit dem die Flüchtlingspolitik finanziert wird. Am Mittwoch kündigte die EU-Kommission jedoch einen neuen Anlauf an, die Mitgliedsstaaten zu schnelleren Reaktionen auf Flüchtlingskrisen zu verpflichten.

Laut einem Bericht der deutschen „Welt“ will die EU-Kommission angesichts der weiteren Zuspitzung der Krise nun die verpflichtende Verteilung von 120.000 Flüchtlingen aus Ungarn, Italien und Griechenland vorschlagen. Wie das Blatt am Donnerstag im Voraus unter Berufung auf hohe informierte EU-Kreise berichtete, sollen 54.000 Flüchtlinge aus Ungarn, 50.400 aus Griechenland und 15.600 Flüchtlinge aus Italien umverteilt werden. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker werde bei seiner Rede zur Lage der Union im EU-Parlament in Straßburg einen entsprechenden Vorschlag machen.

Der Verteilungsschlüssel solle sich nach Bevölkerungszahl (40 Prozent), Wirtschaftskraft (40 Prozent), Arbeitslosenzahl (zehn Prozent) und den bisherigen Leistungen bei der Aufnahme von Asylsuchenden richten, hieß es in dem „Welt“-Bericht weiter.

Paris und Berlin drängen auf verbindliche Quote

Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs einigten sich auf eine gemeinsame Initiative für verbindliche Quoten zur Verteilung. Die gemeinsamen Positionen seien das Ergebnis eines Telefonats mit dem französischen Präsidenten Francois Hollande am Donnerstag und sollten nun den europäischen Institutionen übermittelt werden, sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bei einem Besuch in der Schweiz. Es gehe darum, „uns die Aufgaben zu teilen“.

Der Elysee-Palast in Paris teilte mit, im gemeinsamen deutsch-französischen Vorschlag gehe es unter anderem um „die Organisation der Aufnahme der Flüchtlinge und ihre gerechte Verteilung in Europa“. Auch müssten das europäische Asylsystem durch eine Angleichung der Regeln gestärkt, eine „Rückkehr der irregulären Migranten in ihre Herkunftsländer“ sichergestellt sowie die Herkunfts- und Transitländer unterstützt werden.

Länder, die sich gegen die verbindliche Aufnahme von Flüchtlingen sperren, müssen nach Ansicht des deutschen EU-Kommissars Günther Oettinger notfalls mit Vertragsverletzungsverfahren zur Räson gebracht werden. Die Kommission werde bald einen neuen Vorschlag machen: „Ich glaube, dass eine Mehrheit für eine verbindliche Quote im Rat und im Parlament im Herbst möglich ist“, sagte Oettinger am Donnerstag.

EU-Kommission geht auf Distanz

Die EU-Kommission wollte diese Berichte nicht kommentieren. „Natürlich geben wir zu Gerüchten keinen Kommentar ab“, sagte eine Sprecherin am Donnerstag in Brüssel auf die Frage, ob die bisherigen 40.000 in den 120.000 verpflichtend zu verteilenden Flüchtlingen enthalten seien. Auch über die Aussage von EU-Ratspräsident Tusk, mindestens 100.000 Flüchtlinge in der EU zu verteilen, ging sie nicht ein. „Der EU-Rat und die EU-Kommission sind zwei getrennte Institutionen.“ Sie könne nicht für Tusk sprechen.

Schulz: 507 Mio. zu 500.000

EU-Präsident Martin Schulz sprach sich unterdessen für eine Quote aus. „Wenn Sie 400.000 oder 500.000 Flüchtlinge haben, die nach Europa kommen, und Sie verteilen die unter 507 Millionen Menschen, die in den 28 Mitgliedsstaaten der EU leben, dann ist das kein Problem“, sagte Schulz am Donnerstag. „507 Millionen im Verhältnis zu 500.000 ist machbar, aber wenn Sie 500.000 konzentrieren auf ganz wenige Länder, dann ist das ein Problem.“ Schulz spielte damit darauf an, dass derzeit Staaten wie Schweden und Deutschland den Großteil aller in die EU kommenden Asylsuchenden aufnehmen.

Estlands Regierungschef gegen Grenzkontrollen

Der estnische Regierungschef Taavi Roivas ist gegen eine mögliche Aussetzung des Schengen-Abkommens, um die Krise unter Kontrolle zu bekommen. „Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen würde Europa erheblich schaden“, sagte er am Donnerstag auf der Regierungspressekonferenz in Tallinn. „Ich hoffe, dass andere Maßnahmen zur Lösung der Krise gefunden werden können, als die Binnengrenzen in Europa dichtzumachen“, sagte Roivas.

Die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite hat der EU unterdessen die Solidarität ihres Landes in der Flüchtlingskrise zugesichert. Die Situation sei zunehmend kritisch. Im litauischen Rundfunk sagte sie, Litauen sei bereit, solidarisch mit allen europäischen Ländern nach Lösungen zu suchen. Ob Litauen mehr Flüchtlinge aufnehmen würde, sagte sie nicht. Bisher hatte sich Litauen gegen verpflichtende Aufnahmequoten für Flüchtlinge gewehrt.

Polen gegen automatische Quote

Polens Ministerpräsidentin Ewa Kopacz bekräftigte ihre Ablehnung einer Verteilung nach einem Quotensystem, zugleich signalisierte sie aber Bereitschaft zu einer Aufnahme auf freiwilliger Basis. „Wir sind gegen automatische Quoten, aber bereit, das Ausmaß unseres Engagements nach dem Prinzip der Freiwilligkeit zu diskutieren“, so Kopacz am Donnerstag in Warschau.

Serbien wird einen eigenen Aktionsplan zur Lösung des Flüchtlingsproblems entwerfen. Das kündigte am Donnerstag Ministerpräsident Aleksandar Vucic bei einem Besuch in der nordserbischen Grenzstadt Kanjiza an. Details nannte er nicht.

Vucic bestätigte gegenüber Medien, dass er von seinem ungarischen Amtskollegen Orban in einem Telefongespräch zuvor am Donnerstag informiert wurde, dass am 15. September in Ungarn ein neues Gesetz in Kraft trete, das illegale Grenzübertritte bestraft. „Das stellt für uns ein zusätzliches Problem dar“, sagte Vucic unter Hinweis darauf, dass der Zaun Ungarns an der Grenze zu Serbien gewiss „niemandem Freude“ bereite. Bis Montag hatten heuer laut amtlichen Angaben über 115.000 Flüchtlinge Serbien passiert.

Orban: Asyl „deutsches Problem“

Für Aufsehen hatte zuvor Orban gesorgt. Er kritisierte die deutsche Regierung für ihr Verhalten in der Flüchtlingskrise. „Das ist kein EU-Problem, sondern ein deutsches Problem, denn niemand will in Ungarn bleiben, sondern nach Deutschland“, sagte Orban am Donnerstag nach einem Treffen mit Schulz.

Die Aufgabe der ungarischen Regierung sei laut EU-Recht, jeden ankommenden Migranten zu registrieren. „Wenn die deutsche Kanzlerin Angela Merkel darauf besteht, werden wir das tun.“ Die Lage sei aber chaotisch. Seine Regierung habe alles getan, um sich an die EU-Regeln zu halten. Ab Mitte September sollten neue Gesetze gelten sowie eine „physische Barriere“ fertiggestellt sein. Die Menschen in seinem Land seien voller Furcht, weil die EU-Staats- und -Regierungschefs es nicht schafften, die Situation in den Griff zu bekommen.

Merkel wies die Vorwürfe scharf zurück. Bei einem Besuch in der Schweiz sagte die deutsche Kanzlerin am Donnerstag: „Deutschland tut das, was moralisch und was rechtlich geboten ist. Und nicht mehr und nicht weniger.“ Kritik an Orbans Aussagen kam auch von Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). „Das ist völliger Unsinn. Ich kann nur dazu raten, dass diese gegenseitigen Schuldzuweisungen in Europa ein Ende finden. Ich erwarte von uns in allen 28 europäischen Mitgliedsländern, dass wir zusammenarbeiten“, so Steinmeier gegenüber der dpa.

Tusk-Schelte für Orban

Tusk reagierte mit deutlichen Worten auf eine Äußerung Orbans, die EU müsse angesichts der Flüchtlingskrise um ihre christliche Prägung fürchten. Für ihn sei „der christliche Glaube im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben eine Verpflichtung gegenüber unseren Brüdern in Not“, sagte Tusk am Donnerstag an der Seite Orbans in Brüssel. Es gehe darum, „Solidarität zu zeigen“. „Für einen Christen sollten Herkunft und Religion nicht von Bedeutung sein“, sagte Tusk.

Der EU-Ratspräsident nahm damit Bezug auf Äußerungen Orbans in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Donnerstag-Ausgabe). Darin hatte Orban geschrieben, „dass diejenigen, die hierherkommen, in einer anderen Religion erzogen wurden und Vertreter einer grundlegend anderen Kultur sind“. Sie seien „meistens keine Christen, sondern Muslime“, was „eine wichtige Frage“ sei, „denn Europa und das Europäertum haben christliche Wurzeln“.

Weiters formulierte Orban die Frage, ob es nicht schon an und für sich besorgniserregend sei, „dass die christliche Kultur Europas bereits kaum noch in der Lage ist, Europa in der eigenen christlichen Wertordnung zu halten“. „Wenn wir das aus den Augen verlieren, kann der europäische Gedanke auf dem eigenen Kontinent in die Minderheit geraten“, schrieb er.

Links: