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„Schmidt-Schnauze“ prägte Deutschland

Er war Deutschlands wohl berühmtester Kettenraucher, hat als Krisenmanager und politisches Gewissen gegolten und wurde noch mit 89 Jahren zum „coolsten Kerl“ Deutschlands gewählt: Der ehemalige deutsche Kanzler Helmut Schmidt ist am Dienstag im Alter von 96 Jahren gestorben.

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Er starb in Hamburg, wie sein behandelnder Arzt Heiner Greten der dpa sagte. Der deutsche Altkanzler war Anfang September in Hamburg wegen eines Blutgerinnsels am Bein operiert worden. Nach gut zwei Wochen verließ er das Krankenhaus und kehrte in sein Haus in Hamburg-Langenhorn zurück, wo er rund um die Uhr betreut wurde. „Die Entlassung erfolgte auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten“, hatte die Hamburger Asklepios-Klinik St. Georg damals erklärt. Zuletzt hatte sich sein Zustand dramatisch verschlechtert.

Hanseat bis zum Schluss

Schmidt wurde am 23. Dezember 1918 in Hamburg geboren, wo er bis zum Schluss lebte. Ursprünglich wollte er Architekt werden, studierte aber nach dem Ende des Krieges, wo er an der Ost- und Westfront gekämpft hatte, Volkswirtschaft. 1946 trat er der SPD bei und wurde 1953 erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt. Dort profilierte er sich als Widersacher des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß (CSU), was ihm den Beinamen „Schmidt-Schnauze“ einbrachte. Bei der Sturmflut 1962 erlangte der damalige Innensenator Hamburgs als Krisenmanager viel Popularität.

Helmut Schmidt raucht

APA/dpa

Schmidt war zeitlebens bekennender Kettenraucher

1969 wurde Schmidt Verteidigungsminister der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt, zuvor war er seit 1966 SPD-Fraktionsvorsitzender. 1972 übernahm er das Finanz- und Wirtschaftsministerium und war nach dessen Teilung Finanzminister, 1974 wurde er nach dem Rücktritt Brandts im Zuge der Guillaume-Affäre selbst deutscher Kanzler. 1982 wurde er nicht zuletzt im Zuge interner Querelen über den NATO-Doppelbeschluss von CDU-Politiker Helmut Kohl abgelöst. Laut dem NATO-Doppelbeschluss sollten in Europa atomare Mittelstreckenraketen stationiert werden, falls Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion ergebnislos blieben.

RAF und Wirtschaftskrise dominierten Amtszeit

Schmidts achtjährige Regierungszeit war geprägt von einer weltweiten Rezession und der Ölkrise, aber auch vom Terror der Roten Armee-Fraktion (RAF). Im April 1977 wurde der Generalbundesanwalt Siegfried Buback von der RAF erschossen, im Juli dann Bankier Jürgen Ponto. Im „Deutschen Herbst“ 1977 wurde der deutsche Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt, kurze Zeit später die Lufthansa-Maschine „Landshut“ gekapert. Schmidt verweigerte Verhandlungen mit den Terroristen und entschloss sich zur gewaltsamen Befreiung durch die GSG 9 in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Einen Tag später wurde Schleyers Leiche gefunden.

Verantwortung für Schleyers Tod

Schmidt übernahm für Schleyers Tod die politische Verantwortung. Bei der Verleihung des Hanns-Martin-Schleyer-Preises 2013 zeigte er sich „tief gerührt“ über die Versöhnungsgeste, räumte aber auch bei der Verleihung erneut seine Mitschuld am Tod Schleyers ein. Die RAF bot während der sechs Wochen dauernden Entführung an, Schleyer freizulassen, wenn wichtige Terroristen, darunter Andreas Baader und Gudrun Ensslin, aus der Haft entlassen würden. Schmidt lehnte das ab. Schleyers Witwe Waltrude warf Schmidt zeitlebens vor, das Leben ihres Mannes für die Staatsräson geopfert zu haben.

Helmut Schmidt mit Presse im Jahre 1977

AP/Fritz Reiss

Schmidt 1977 während der RAF-Krise vor Journalisten

Für den Fall, dass die Befreiungsaktion für die „Landshut“ missglückt wäre, hatte Schmidt bereits sein Rücktrittsschreiben vorbereitet. Gemeinsam mit dem ihm freundschaftlich eng verbundenen französischen Präsidenten Valery Giscard d’Estaing legte Schmidt während seiner politischen Karriere den Grundstein für das Europäische Währungssystem und die Weltwirtschaftsgipfel.

Langjähriger Publizist und Herausgeber

1983 wurde Schmidt einer der Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“, 1986 schied er aus dem deutschen Bundestag aus. In seinen fast 30 Buchveröffentlichungen seit 1961 sowie in zahllosen Artikeln und Vorträgen mischte er sich immer wieder auch mit unpopulären Meinungen in aktuelle Debatten ein. Er erhob zuletzt das Wort gegen die PEGIDA-Bewegung in Deutschland und zeigte Verständnis für die Politik von Russlands Präsident Wladimir Putin: Putin habe das letzte noch bestehende „Kolonialreich geerbt“, das er zu erhalten versuche.

Nachruf auf Helmut Schmidt

Helmut Schmidt war einer der populärsten und angesehensten Politiker Deutschlands, als solcher genoss er den Ruf eines Machers und Krisenmanagers.

Immer wieder für Überraschungen gut

Nach seinem Abgang aus dem Bundestag war er nicht mehr als Politiker aktiv und erschien auf Parteitagen nur noch selten. Er sorgte aber in der eigenen Partei immer für Überraschungen, etwa als er sich 2011 für den Hamburger Peer Steinbrück als Kanzlerkandidaten für die Wahl 2013 aussprach, Steinbrück konnte sich gegen Angela Merkel aber schließlich nicht durchsetzen. Schmidt war zeitlebens Befürworter der Atomenergie und wurde in Umfragen auch als beliebtester Politiker der jüngeren deutschen Geschichte sowie als größtes Vorbild der Deutschen ermittelt.

Schmidt warnte zudem vor dem gerade in Deutschland intensiv diskutierten „Grexit“, also dem Ausstieg Griechenlands aus dem Euro. Mit 89 Jahren wurde er in einer Umfrage zum „coolsten“ Kerl Deutschlands gewählt - vor Till Schweiger. Zuletzt sorgte er in seinem Anfang 2015 erschienenen Buch „Was ich noch sagen wollte“ unter anderem mit dem Geständnis einer Affäre während seiner Ehe mit seiner Ehefrau Hannelore „Loki“ für Aufsehen.

68 Jahre Ehe mit „Loki“

Helmut und seine Frau kannten einander seit Schulzeiten, bis zu ihrem Tod im Oktober 2010 galten sie mit ihrer 68 Jahre dauernden Ehe als Vorbild für eine Liebe bis ins hohe Alter. Noch 2008 hatte „Loki“ gegenüber der „Zeit“ die Beziehung zu ihrem Mann als äußerst harmonisch beschrieben. Sie hätten nur einen richtigen Streit gehabt - dessen Ursache sie aber beide vergessen hätten. Die beiden hatten gemeinsam eine Tochter. Zuletzt war Ruth Loah Helmut Schmidts Lebensgefährtin.

Helmut Schmidt mit Loki Schmidt

picturedesk.com/Ulrich Perrei

Schmidt und seine Ehefrau Hannelore „Loki“ Schmidt waren bis zu ihrem Tod 2010 68 Jahre verheiratet

TV-Hinweis

ORF2 bringt am Dienstag um 23.05 Uhr ein „Weltjournal-Spezial“ mit einem Nachruf auf den legendären deutschen Altkanzler.

Der leidenschaftliche Kettenraucher Schmidt, der aus Angst vor einem Verbot 200 Stangen seiner Lieblingsmarke Menthol-Zigaretten gebunkert haben soll, hatte zeitlebens mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Nach einer Serie von Ohnmachtsanfällen und Wiederbelebungen bekam Schmidt noch als deutscher Kanzler einen Herzschrittmacher, 2002 überstand er einen schweren Infarkt und eine Operation am offenen Herzen. Er hatte sein Gehör weitgehend verloren und benutzte seit 2009 einen Rollstuhl, weil ihm das Gehen Schmerzen bereitete.

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