Umstrittener Wandel im Lebensmittelmarkt
Die Agrarlobby hatte den größten Redebedarf im Vorfeld der Verhandlungen zum Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP). Das zeigt eine aktuelle Auswertung der bisherigen Gespräche. Der Agrarsektor lobbyierte mehr als der Pharma-, Chemie-, Finanz- und Automobilsektor zusammen. Während die EU beruhigt, schlagen Verbraucherschützer Alarm.
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Das Thema Essen ist das wohl sensibelste in der öffentlichen Debatte rund um TTIP. Die größte befürchtete Gefahr der TTIP-Kritiker: Wenn sich die EU und die USA auf dem Lebensmittelsektor annähern, könnte das die europäische Lebensmittelindustrie so gravierend verändern wie noch kein Abkommen zuvor, und, wie Kritiker sagen, die Qualität der Nahrungsmittel deutlich verschlechtern.
„Standards nicht verhandelbar“
Die lobbykritische Organisation Corporate Europe Observatory sticht genau in dieses Wespennest, indem sie herausfand, dass sich die Agrarlobby mit Abstand am häufigsten mit EU-Vertretern im Vorfeld der TTIP-Verhandlungen getroffen haben soll. Kritiker werten die Häufigkeit der Treffen mit der Agrarlobby als Vorzeichen dafür, dass die Umwälzungen auf dem Lebensmittelsektor größer sein dürften, als die EU zugeben möchte. Der Befürchtung setzt die EU-Kommission in ihrem Papier entgegen: „Die USA und die EU haben beide betont, dass die geltenden Vorschriften für die Lebensmittelsicherheit von TTIP nicht berührt werden.“

Reuters/Srdjan Zivulovic
Das „Chlorhuhn“ wurde zum Symbol
Der Lebensmittellobbyist und Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie Christoph Minhoff sagte gegenüber ORF.at, dass die EU-Standards auch für die Lebensmittelindustrie nicht verhandelbar seien: „Wir wollen Bürokratie im Handel nachhaltig abbauen und so Kosten senken. Abweichende Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzstandards sind jedoch nicht verhandelbar, hier wird es weiterhin Unterschiede geben.“
Die Verbraucherzentrale Hamburg verweist auf das Vorsorgeprinzip: Die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde (EFSA) prüfe jedes Lebensmittel, bevor es auf dem Markt verkauft werden darf. In den USA dagegen dürften die Nahrungsmittelkonzerne ihre Produkte selbst als sicher und gesundheitlich unbedenklich deklarieren.
Einschleichen kritischer Praktiken
Eine Annährung der EU und der USA auf dem Lebensmittelmarkt könnte die EU-Standards rechtlich zwar unberührt lassen – künftig aber trotzdem „kritische Praktiken“ zulassen, wie sich der Verein Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft sorgt. Ein Beispiel: Seit 2013 dürfen Kanada und die USA mit Milchsäure behandeltes Rindfleisch in Europa verkaufen. Dieses Verfahren wird in Europa teilweise zwar auch angewandt, darf aber kein Ersatz für Hygiene in der Fleischproduktion sein. Hier ist es noch Norm, dass das Fleisch nach der Schlachtung nur mit heißem Trinkwasser gereinigt wird.
Berüchtigtes Beispiel „Chlorhuhn“
Nicht so in den USA: Die Reinigung mit Milchsäure und Chlorbäder sind dort gängige Praxis, ohne dass Schlachthöfe untersucht werden. Das „Chlorhuhn“ wurde für die Debatte darüber zum Symbol. In der EU sind diese „Chlorbäder“ verboten. Das Problem liege aber nicht nur darin, sondern dass eine so starke Reinigungsmethode eine mangelhafte Produktion und Hygiene des Fleisches voraussetze, sagte Silke Schwartau von der Verbraucherzentrale Hamburg im Gespräch mit ORF.at und wies darauf hin, dass in den USA „etwa 100-mal mehr Menschen jährlich eine Lebensmittelinfektion im Vergleich zu den Europäern“ erleiden würden.
Gravierende Gegensätze in der Hygiene
„Zwischen der EU und den USA gibt es gravierende Gegensätze bei der Regulierung der Herstellung von Lebensmitteln, bei Hygienestandards, Kontrollen und Kennzeichnung“, sagt Schwartau und nennt das Beispiel Gentechnik: So könnten durch TTIP auch gentechnisch veränderte Lebensmittel ohne Kennzeichnung in der EU verkauft werden, ebenso wie Fleisch von geklonten Tieren, so Schwartau.
Klonfleisch und „Turboschweine“
Seit 2009 ist Klonfleisch in den USA erlaubt und wird ohne Kennzeichnung auf dem Markt verkauft. Sechs Jahre später ist es laut Schwartau völlig unklar, wie viel Fleisch und Milch von Nachkommen der geklonten Tiere auf dem Lebensmittelmarkt kursieren. In den USA würden Schweinen und Rindern außerdem Wachstumshormone verabreicht, so Schwartau. Das führe dazu, dass die Tiere schneller an Gewicht zunehmen, vier Tage früher schlachtreif sind und weniger Futter brauchen.
Bei diesen Verarbeitungsverfahren könnten Risiken wie Herz-Kreislauf-Schäden und hormonelle Beeinflussung für den Menschen durch die Wachstumshormone im Schweine- und Rindfleisch nicht ausgeschlossen werden, so Schwartau. Dasselbe gelte für Kühe: Milch und Milchprodukte von Kühen, die mit Hormonen behandelt werden, und die „Turboschweine“, die in der EU verboten sind, könnten auf den EU-Markt gelangen.
Agrarsektor: Lukratives Gewerbe
Die Erklärung, warum die EU im Bereich der Lebensmittelindustrie eine Marktöffnung mittels TTIP vorantreibt und die Agrarlobby der meistgesehene Gast bei EU-Vertretern war, lässt sich in den Zahlen und Daten des EU-Lebensmittelsektors finden: Die Lebensmittelindustrie ist einer der größten und wichtigsten Produktionssektoren in Europa. Mit einem Anteil von 14,5 Prozent am gesamten Umsatz im verarbeitenden Gewerbe ist sie nach der Metallindustrie die zweitgrößte Branche.
Es sind die europäischen und US-amerikanischen sowie multinationalen Lebensmittelkonzerne, Saatguthersteller und Gentechnologieunternehmen, die sich durch TTIP Gewinne ausrechnen. Im Fall der Nahrungsmittelindustrie könnten diese Gewinne auf die gesundheitlichen Kosten von Mensch und Tier gehen. Vor allem sind die Risiken eines: nicht absehbar.
Manuela Tomic, ORF.at
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