Seeungeheuer zum Frühstück
Ein bisschen „Game of Thrones“, ein bisschen Pasolini: In seinem englischsprachigen Debüt lässt der italienische Regisseur Matteo Garrone sein Publikum in eine barocke Fantasiewelt eintauchen. „Das Märchen der Märchen“ verzaubert und schockiert zugleich - fernab jeglicher Disney-Romantik. Die drei Einzelgeschichten fordern dabei die Geduld der Zuschauer heraus.
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Als Vorlage dient Garrone der erste namhafte Märchenband Mitteleuropas: Giambattista Basiles „Pentameron“, im neapolitanischen Original „Lo Cunto de Li Cunti“, „Das Märchen der Märchen“. Entstanden im 17. Jahrhundert - und damit gut 200 Jahre bevor die Gebrüder Grimm die Sammlung entdeckten - trug Basile die Basis für Klassiker wie „Dornröschen“, „Aschenputtel“ und „Rapunzel“ zusammen. Der Märchenband setzt auf eine Rahmenhandlung, die sich über einen Zeitraum von fünf Tagen erstreckt und insgesamt 50 einzelne Geschichten umfasst.

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Regisseur Matteo Garrone (Mitte) mit dem König von Strongcliff (Vincent Cassel) und dessen neuester Liebschaft (Stacy Martin)
Für die Leinwandadaption setzt Garrone auf drei der Märchen - „Der Floh“, „Die hinterlistige Hirschkuh“ und „Die geschundene Alte“ - und verzichtet dafür auf den erzählerischen Rahmen. Damit weisen die einzelnen Geschichten außer ihrer örtlichen Nähe zueinander kaum Überschneidungen auf. Stattdessen wird zwischen den einzelnen Märchen hin- und hergesprungen, um so ein dichtes Handlungsgeflecht herzustellen. Diese Erzählstruktur kam schon in Garrones Mafia-Epos „Gomorrha“ zum Einsatz, das 2008 mit dem Grand Prix in Cannes ausgezeichnet wurde.
Keine Gute-Nacht-Geschichten
Obwohl die Literaturvorlage „Unterhaltung für die Kleinen“ verspricht, ist „Das Märchen der Märchen“ deftige Kost in barockem Gewand. Bevor die Grimms die Geschichten mit christlicher Moral versahen und Walt Disney eine kräftige Portion Schmalz hinzufügte herrschten Ambivalenz und Brutalität in den Fantasy-Vorläufern. Garrone und seine Drehbuchkollegen behaupten zwar künstlerische Freiheit für sich und haben einige Änderungen eingeführt - Blutrünstigkeit fernab von Schwarz-Weiß-Malerei bleibt aber erhalten und wird visuell opulent aufbereitet.
Nichts für schwache Nerven (und Mägen) ist etwa eine Szene gleich zu Beginn, in der die Königin von Longtrellis (Salma Hayek) das Herz eines Seeungeheurs auf ganz unadelige Art und Weise verschlingt. Das Monster, für das der König (John C. Reilly) sein Leben lassen musste, soll den bisher unerfüllten Kinderwunsch wahr machen - die Idee dafür stammt von einem mysteriösen Scharlatan. Da überrascht es auch nicht sonderlich, dass die unorthodoxe Vorgangsweise nicht ohne Konsequenzen bleibt.
Alte Märchen, zeitlose Themen
Im Königreich von Highhills geht es indes weniger blutig zu und sorgt so für - dringend nötige - Entspannung in der Magengrube. Die ortsansässige Prinzessin (Bebe Cave) will hinaus in die weite Welt und bittet ihren Vater (Toby Jones) darum, einen passenden Mann für sie zu suchen. Doch der interessiert sich viel mehr für sein neues Haustier als für das Glück der eigenen Tochter. Die Aufmerksamkeit gilt einem Floh, den er großzieht - und zwar so lange, bis das Insekt im Prinzip ein eigenes Bett im Schloss benötigt.

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Salma Hayek im königlichen Irrgarten - Herausforderung im stilgemäßen Kleid
Und weil in keinem aktuellen Fantasyfilm Sex zu kurz kommen darf, herrscht in einem weiteren Königreich ein lüsterner König (Vincent Cassel). Seine Hauptbeschäftigung ist die Jagd, eher auf Frauen als auf Tiere - nichts und niemand ist vor ihm sicher. Besonders angetan hat es ihm eine liebliche Stimme, die er nur aus der Entfernung wahrgenommen hat. Doch die gehört der weder jungen noch attraktiven Dora (Hayley Carmichael in starker Maske). Während der König seinem neuen Objekt der Begierde nachjagt, ist Dora auf der verzweifelten Suche nach ihrer lange verlorenen Jugend.
Hinweis
„Das Märchen der Märchen“ ist ab Freitag im Kino zu sehen.
Garrone ist mit der Auswahl der Märchen am Puls der Zeit: Themen wie die immerwährende Jugend erweisen sich dabei als zeitlose Klassiker, die schon vor knapp 400 Jahren als Problematik in Wort und Bild verarbeitet wurden. Eingriffe nimmt Garrone dort vor, wo die Märchen nicht ganz so zeitgemäß dastehen. So weiß sich die unglückliche Prinzessin etwa selbst zu helfen und ist nicht mehr bloß die „verfolgte Unschuld“.
Atemberaubende Langatmigkeit
Dass Garrone auf die typische Schwarz-Weiß-Denkweise zugunsten vieler Grautöne verzichtet, regt einerseits die Reflexion durch das Publikum an, andererseits raubt er damit den Charakteren die Möglichkeit, sich auf der Leinwand nennenswert zu entwickeln. Bei aller visueller Opulenz, die es zu bestaunen gibt, wird „Das Märchen der Märchen“ dadurch streckenweise zur Geduldsprobe. Als Belohnung gibt es dafür Märchenkino, das nicht belehrt, sondern bezaubert - solange man sich nur auf die Reise in die barocke Fantasiewelt einlässt.
Florian Bock, ORF.at
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