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Die Situation der Flüchtlinge

Wie viele Asylwerber sich tatsächlich in Traiskirchen aufhalten, weiß niemand. Es sollen rund 3.400 sein. Das Lager war ursprünglich für 400 Menschen gedacht. Ab 1.800 kann niemand mehr regulär aufgenommen werden. Nun sind zahlreiche Familien trotz des wiederkehrenden Regens obdachlos.

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Von einer Entspannung der Situation in Traiskirchen kann keine Rede sein - obwohl das Rote Kreuz erst letzte Woche 70 Zelte aufgestellt hat. Laut Innenministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck sind noch immer 600 Menschen in und um das Lager obdachlos - sprich: Sie haben nicht einmal Platz in einem der professionellen Zelte. Man sei zumindest bemüht, ihnen einen Platz im Trockenen zu bieten. Garagen und Warteräume würden geöffnet, wenn es regnet. In den vergangenen Wochen waren auch Busse zum Schlafen zur Verfügung gestellt worden. Allerdings: „Die Situation bleibt prekär. Es ist immer noch eine Überbelegung zu verzeichnen. Es werden dringend Quartiere in den Ländern gesucht.“

Wie prekär die Situation ist, davon hat sich am Dienstagnachmittag ORF.at vor Ort überzeugt. Bei Weitem nicht alle Menschen finden in den trockenen Unterschlupfen, von denen Grundböck spricht, einen Platz. Vor den Toren des Lagers trifft ORF.at auf eine Familie. Der fünfjährige Sohn spielt auf dem Asphalt mit Matchbox-Autos. Die Mutter, im vierten Monat schwanger, sitzt neben ihm auf dem Gehsteig, das Gesicht bleich und schmerzverzerrt. Der Ehemann wirkt verzweifelt und sagt, seine Frau sei krank und werde im Lager nicht ausreichend versorgt. Heute sei der Arzt, dem sie zugewiesen worden waren, nicht einmal im Dienst gewesen. Überprüft werden können seine Aussagen nicht.

Eindrücke aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen

ORF.at/Roland Winkler

Eine schwangere Frau sitzt, von Krankheit gezeichnet, auf dem Gehsteig

Zusammenbruch auf dem Gehsteig

Die Familie kommt aus dem Irak und ist seit zehn Tagen in Traiskirchen. Die ersten drei Tage konnten sie in Bussen übernachten, seither schlafen sie in einem der gespendeten Zelte. Vor drei Tagen sei während der Nacht bei Starkregen und Sturm alles unter Wasser gestanden. Das Kind hustet. 30 Minuten nach dem Gespräch mit ORF.at bricht die Schwangere endgültig zusammen und muss vom Notarzt versorgt und in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen wird trotz anderslautender Ankündigungen noch immer nicht ins Lager vorgelassen.

Zeuge des Zusammenbruchs wurde der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler. Er ringt um Fassung: „Was muss noch passieren? Die Lage ist dramatisch. Vor allem jetzt bei dem Regen.“ Der Vorfall mit dem Notarztwagen sei kein Einzelfall. Vergangene Woche habe der Samariterbund das Baby einer obdachlosen Frau auf der Wiese entbunden. Die sanitären Einrichtungen, die hygienischen Zustände im Lager, die prekäre Lage bei der Essensversorgung: Babler schüttelt den Kopf: „Es ist schlimm.“

Eindrücke aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen

ORF.at/Roland Winkler

Hinter der Menschentraube verbirgt sich ein kleiner Pkw mit Hilfsgütern

Gerangel um Grundnahrungsmittel

Neben dem Zaun bleibt ein Privat-Pkw mit einem Anhänger stehen. Hinten sind Wasserflaschen und Bananen eingeladen. Ein Tumult entsteht. Hier wird nicht um Markengewand gerangelt, das dann auf dem Schwarzmarkt landet - sondern um Grundnahrungsmittel. Fäuste fliegen. Ein paar Minuten später dasselbe Schauspiel vor dem Kofferraum eines anderen Autos. Einer drängt sich vor und bekommt dafür eine schallende Ohrfeige verpasst. Diesmal ging es um kleine Säckchen, in die jeweils eine Banane, ein Paprika und ein Apfel eingepackt waren. Immer wieder wird versichert, alle Asylwerber würden ausreichend versorgt. Das ist möglich - aber mit diesen Szenen schwer in Einklang zu bringen.

„Wir wollen nicht, dass Du zu uns kommst“

Klaus Schwertner, Geschäftsführer der Caritas Wien und regelmäßig in Traiskirchen, geht es wie Babler. Auch er muss hörbar um seine Professionalität kämpfen, wenn er über die Zustände im Lager spricht. Aus seiner langjährigen Tätigkeit im humanitären Bereich kennt er solche Situationen ausschließlich von Naturkatastrophen wie dem Erdbeben in Haiti 2010. Nie hätte er sich gedacht, jemals mitten in Österreich Schlafsäcke an obdachlose Kinder austeilen zu müssen. Schwertner würde sich wünschen, dass jeder einzelne Bürgermeister, der in seiner Ortschaft keine Flüchtlinge aufnehmen will, hierher kommt, einem obdachlosen Kind in die Augen blickt und zu ihm sagt: „Wir wollen nicht, dass Du zu uns kommst.“

Das mag pathetisch klingen. Aber Grundböck vom Innenministerium, Bürgermeister Babler und Caritas-Wien-Chef Schwertner lügen nicht. Die Lage ist prekär. Hunderte windschiefe Campingzelte stehen auf dem Gelände des Flüchtlingslagers herum. Sie sind ideal für ein verlängertes Wochenende bei Schönwetter in Kroatien - aber nicht als Familienunterkünfte über Wochen bei starkem Regen und großer Hitze geeignet. Überall zwischen den Zelten spielen kleine Kinder. Babys werden herumgetragen. Ein Iraker sagt: „Die Kinder husten alle schon.“

Eindrücke aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen

ORF.at/Roland Winkler

Familien leben in kleinen Zelten - trotz des Regens

Eine Katastrophe als Signal

Babler und Schwertner sind sich sicher. Diese Eskalation wird gewollt. Leicht wären die Flüchtlinge anderswo menschenwürdig unterzubringen. Ein paar Kilometer weiter in Baden stünden zwei Pflegeheime leer, bei denen man nur die Betten überziehen müsste. Aber von Traiskirchen soll ein Signal ausgesendet werden: Ihr seid hier nicht willkommen, eine Flucht nach Österreich lohnt sich nicht. Dafür wird eine humanitäre Katastrophe in Kauf genommen. In und um das Lager Traiskirchen ist Österreich ein „failed state“ - ein gescheiterter Staat. Tatsächlich herrschen im jordanischen Flüchtlingscamp Saatari mit 80.000 Einwohnern weniger dramatische Zustände (ORF.at hatte berichtet).

Eindrücke aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen

ORF.at/Roland Winkler

Der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler vor dem Flüchtlingslager

Als Journalist kann man sich rund um das Lager kaum fortbewegen. Man wird umringt von Menschen, die ihre Geschichte erzählen wollen. Von den Verwandten, die in Syrien und im Irak getötet wurden: „Mein Bruder wurde erschossen.“ Von der gefährlichen Flucht auf einem völlig überfüllten Boot: „Wir haben acht Stunden lang dem Tod in die Augen gesehen.“ Vom brennenden Wunsch, das Asylverfahren möge bald abgeschlossen sein, damit die Frau und das Kind auf sicherem Weg nachkommen können.

„Wir wissen, dass das nicht Österreich ist“

Gleichzeitig versuchen die Asylwerber, nicht den Mut zu verlieren. „Wir müssen auch lachen, sonst überleben wir das hier nicht“, sagt einer und bietet eine Zigarette an. Und mehrfach werden bestürzte Beobachter und Helfer während eines zweistündigen Aufenthalts von den geflohenen Menschen sogar noch getröstet: „Keine Angst, wir wissen schon, dass das hier nicht Österreich ist. Österreich ist das da draußen.“ Sie zeigen durch den Zaun auf das nächste Auto, aus dem Hilfsgüter ausgeladen werden.

Simon Hadler (Text), Roland Winkler (Fotos), beide ORF.at

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