„Unnötig und beschämend“
Geharnischte Kritik übt die NGO Amnesty International (AI) nach einem Lokalaugenschein im Asylerstaufnahmezentrum Traiskirchen. Dem am Freitag veröffentlichten Bericht zufolge wurde eine ernsthafte Verletzung von bindenden Standards in der Bundesbetreuungsstelle festgestellt. Heinz Patzelt, Generalsekretär von AI Österreich, spricht von „strukturellem Versagen“ und einer unmenschlichen Behandlung.
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„Traiskirchen ist das zentrale Symptom für ein weitreichendes strukturelles Versagen des föderalen Österreich im Umgang mit Asylwerbern“, so das vernichtende Urteil von AI in Richtung Innenministerium und Länder. Die zentralen Kritikpunkte: völlige Überbelegung, unzureichende medizinische und soziale Versorgung, leicht vermeidbare administrative Hürden, Verzögerung beim Weitertransport in andere Einrichtungen sowie eine besonders prekäre Situation für Kinder und Jugendliche, die ohne elterliche Begleitung nach Österreich gekommen sind.
AI war vergangene Woche in Traiskirchen, um sich nach immer lauter werdender Kritik an der Unterbringung ein Bild davon zu machen. Das Team aus Menschenrechtsexperten, Ärzten und Dolmetschern konnte sich nach einer Führung mehrere Stunden frei in dem Lager bewegen. Im Rahmen der Research-Mission sei mit 30 Asylwerbern gesprochen worden, erklärte Teamleiterin Daniela Pichler. In Traiskirchen waren zu dem Zeitpunkt etwa 4.500 Menschen untergebracht, Hunderte schliefen in Zelten - fixe Unterkünfte stehen für knapp 2.000 Personen zur Verfügung. Etwa 1.500 Menschen müssten im Freien schlafen, so AI, dazu kämen noch jene, die außerhalb des Geländes übernachteten.
Minderjährige „sich selbst überlassen“
Eine besonders prekäre Situation stelle jene der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge dar. „Sie sind derzeit nicht ausreichend geschützt in Traiskirchen, sondern de facto vollkommen sich selbst überlassen“, kritisierte Pichler und ortete eine Verletzung der UNO-Kinderrechtskonvention. Auch für eine weitere besonders schutzbedürftige Gruppe - die Frauen - bestehe kein ausreichender Schutz in Traiskirchen. So gebe es etwa unter den Obdachlosen Schwangere und Frauen mit neugeborenen Kindern.

APA/Georg Hochmuth
Vernichtende Kritik bei der Pressekonferenz
Die Duschen in den Sanitäranlagen müssten gemischt genutzt werden, es gebe nur Nischen ohne Vorhänge. Die Sanitäranlagen befänden sich außerdem in einem „fürchterlichen hygienischen Zustand“. Viele Asylwerber müssten sich stundenlang bei sengender Hitze um ihre Identitätskarten anstellen, berichtet Pichler. Schon ein einfaches Wartenummernsystem wäre eine „deutliche Verbesserung“.
Teure, „unzuverlässige“ Untersuchungen
Mangelhaft sei auch die medizinische Versorgung - Menschen müssten zum Teil tagelang auf Behandlungen warten. Für die Tausenden Flüchtlinge, teils mit traumatischen Kriegserfahrungen, stehen insgesamt nur vier Ärzte und drei Psychologen zur Verfügung. Die Ärzte hätten nur wenige Stunden pro Tag Zeit, um sich um kranke Flüchtlinge zu kümmern. Den Großteil ihrer Zeit seien sie mit Kontrolluntersuchungen bei der Registrierung der Menschen beschäftigt.
Heinz Patzelt über den Traiskirchen-Bericht
Amnesty-International-Generalsekretär Heinz Patzelt kommentierte das Ergebnis des Berichts von Amnesty über das Asyllager in Traiskirchen.
Der medizinische Experte Siroos Mirzaei kritisierte vor allem auch die radiologische Untersuchung zur Altersfeststellung, denn diese sei „unzuverlässig“ und sehr teuer. Das hierfür aufgewendete Geld wäre besser in der Betreuung aufgehoben, meinte er.
Mit einfachen Mitteln vermeidbar
Aus Sicht von AI sind die Missstände ein selbst verschuldetes Problem: „Österreich ist weder in einer finanziellen Misere noch in einer ressourcenknappen Situation: Das Versagen in der Flüchtlingsversorgung wäre leicht vermeidbar, die Ursachen sind vor allem administrative Fehler. Ein System, das die Menschenrechte von Asylwerbern schützt und respektiert, ließe sich ohne wesentlichen Kostenaufwand verwirklichen“, zeigte sich Patzelt überzeugt. „Es ist völlig unnötig und beschämend, beispielsweise einen zwölfjährigen Bub getrennt von seinem Vater unterzubringen – mit dem Ergebnis, dass beide lieber im Freien schlafen als getrennt zu sein."
Patzelt „unsagbar zornig“
Patzelt erklärte, dass AI Österreich der Zentrale in London laufend Bericht erstatte. Diese habe dann auch irritiert auf die Information über „Massenobdachlosigkeit“ reagiert und zunächst an eine Fehlermeldung geglaubt. Überprüfungen von Flüchtlingslagern seien in vielen anderen Ländern „Routine“, in Mitteleuropa jedoch die Ausnahme. „Ich bin unsagbar zornig“, so Patzelt - der Staat versage bei der Versorgung von Kriegsflüchtlingen und verletzte etwa die UNO-Kinderrechtskonvention und die Frauenkonvention. Einzig die Anti-Folter-Konvention und jene gegen die Todesstrafe würden nicht verletzt, stellte er fest.
Kritik am „Quoten-Pingpong“
Die Hauptverantwortung für die Situation würden die Bundesregierung und die Landeshauptleute tragen, sie kämen ihrer menschenrechtlichen Verantwortung nicht nach, so Patzelt. Das „Quoten-Pingpong“ sei „unerträglich“. Flüchtlingsunterbringung sei „kein Gnadenakt“, es handle sich um eine „Managementaufgabe, die zu lösen ist, wenn man will“. Der „Pseudonotstand“ sei selbst verursacht, meinte der Generalsekretär. Auch er pocht auf rasche, einfache Lösungen etwa bei den Sanitäranlagen gegen die „unfreiwillige Peepshow“.

APA/Georg Hochmuth
AI von „Massenobdachlosigkeit“ alarmiert
Sollte der Bericht keine Wirkung auf die Unterbringung und Betreuung in Traiskirchen zeigen, will AI das völlig überfüllte Flüchtlingslager „sehr bald“ wieder prüfen, kündigte Patzelt an. AI informierte nach der Überprüfung auch das Innenministerium über die Erkenntnisse, es habe ein „sachliches, offenes Gespräch“ gegeben, so Patzelt. Er unterstützt die Forderung der Bundesregierung nach verbindlichen Quoten auf EU-Ebene, denn anderenfalls verdiene die EU keinerlei menschenrechtliche Anerkennung, so der Generalsekretär.
Angebot von Hilfsorganisationen nicht angenommen
Gefordert wird das bereits angekündigte Durchgriffsrecht des Bundes bei der Schaffung von Quartieren. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sollen umgehend einen gesetzlichen Vormund erhalten und Familien bei der Unterbringung nicht getrennt werden. AI verwies auch auf das Angebot von Hilfsorganisationen, Ärzte in das Zentrum zu entsenden - dieses sei bis jetzt jedoch nicht angenommen worden.
Eine einfache Lösung wäre auch bei der Trinkwasserversorgung möglich. Da es in vielen Ländern nicht üblich ist, dieses aus der Wasserleitung zu konsumieren, sollte es in Glasflaschen abgefüllt werden, so Patzelt: Man erwarte „kein teures Evian“. Erfreut seien die Asylwerber über jene Personen, die privat Hilfsgüter zum Zentrum bringen, so Pichler.
Analyse von ORF-Innenpolitikexperten Fritz Jungmayr
Keine Reaktion aus der Regierung zum Bericht von Amnesty - lediglich aus dem Innenministerium gab es eine schriftliche Stellungnahme.
Innenministerium ist „nicht überrascht“
Beim Innenministerium heißt es als Reaktion auf den Bericht, dass die Feststellungen nicht überraschend seien. „Die Situation ist prekär, es handelt sich um eine Ausnahmesituation“, so das Ministerium. Die Zahl der Asylsuchenden sei sprunghaft angestiegen - hin zu einer Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr. Mit dem aktuellen Versorgungsmodell habe auf eine Steigerung in diesem Ausmaß nicht entsprechend reagiert werden können, wird eingeräumt.
Als Schuldige werden die Länder ausgemacht: Der Bund habe über einige Zeit noch als „Puffer“ diesen Mehrbedarf abdecken können, während Bundesländer ihre Quoten „nicht erfüllten“. Diese „Pufferwirkung“ sei nun seit mehreren Wochen ausgereizt. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) drängte abermals auf mehr Solidarität unter den einzelnen europäischen Staaten und verwies auch auf die geplante Verfassungsbestimmung zur Betreuung. Es sei „für jedermann deutlich“, dass die Situation „nicht tragbar ist“.
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