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Die Instrumentalisierung Hiroshimas

„Um den Krieg so rasch wie möglich zu beenden und das Leben amerikanischer Soldaten zu schützen“: Diese Gründe gab US-Präsident Harry S. Truman für den Abwurf der zwei Atombomben in Japan im August 1945 an. Die Zustimmung der amerikanischen Bevölkerung zu den Luftschlägen nach der Kapitulation der Japaner war überwältigend. Historiker sehen noch einen anderen Grund für den Einsatz der Nuklearwaffen: die Einschüchterung der UdSSR am Beginn des Kalten Krieges.

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Die Erzählung, wie sie auch heute in vielen Schulbüchern zu finden ist, scheint plausibel: Um eine Invasion des amerikanischen Militärs (und womöglich Hunderttausende tote US-Soldaten) in Japan zu vermeiden, beendeten die USA den Weltkrieg mit dem Einsatz der Atombomben in Hiroshima und drei Tage später in Nagasaki. Die „zu allem entschlossenen Japaner“ sollten demoralisiert werden und so zur Aufgabe gezwungen werden.

Tatsächlich scheint die japanische Führung von den Zerstörungen in Hiroshima nicht sonderlich beeindruckt gewesen zu sein. „Es gab keine Krisensitzung des obersten Kriegsrats in Japan nach Hiroshima“, erklärte der US-Friedensforscher Ward Wilson der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Für Japans Führung sei es bloß eine weitere Zerstörung einer Stadt mit Brandbomben gewesen. Schon in den Wochen vor Hiroshima hatte das US-Militär mehr als 60 Städte, darunter Tokio, mit den heftigsten Bombardements der Kriegsgeschichte überzogen.

Sowjetische Kriegserklärung Grund für Kapitulation

Für namhafte Historiker wie Tsuyoshi Hasegawa von der University of California ist es denn auch nicht Hiroshima gewesen, sondern vielmehr die Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan am 8. August 1945, die Kaiser Hirohito und sein Militär am 15. August kapitulieren ließen. Bei der Jalta-Konferenz im Februar beschlossen die Alliierten, dass die Sowjetunion ihren Nichtangriffspakt mit Japan genau drei Monate nach der Kapitulation der Nationalsozialisten aufgeben sollte. Erst als sowjetische Truppen - pünktlich am 8. August - in die Mandschurei einmarschierten, wurde der japanischen Führung die Aussichtslosigkeit der Lage klar.

Truman, Chrchill und Stalin bei der Potsdamer Konferenz 1945

picturedesk.com/Ullstein Bild

Gipfeltreffen von Winston Churchill (Großbritannien), Harry S. Truman (USA) und Josef Stalin (UdSSR), 17. Juli 1945 in Potsdam

Dass die Kapitulation der Japaner nur noch eine Frage der Zeit war, wurde spätestens im Jahr 1944 klar. Mit der für Oktober 1945 geplanten Operation „Downfall“ hofften die USA, Japan zu überwältigen und letztlich in die Knie zu zwingen. Im Sommer 1945 forderten die Alliierten Japan in der Erklärung von Potsdam zur sofortigen Kapitulation auf. Truman informierte den Staatschef der Sowjetunion und Generalsekretär der KPdSU, Josef Stalin, dass die US-Streitkräfte über eine Atombombe verfügen.

Atombombeneinsatz intern umstritten

Von der George Washington University wurden kürzlich Dokumente veröffentlicht, die Zweifel auch in den Reihen des Militärs nahelegen. So hatte der Weltkriegsgeneral und spätere US-Präsident Dwight D. Eisenhower gehofft, den Krieg ohne den Einsatz der Bombe beenden zu können. Der Geschichtsprofessor Peter Kuznick sagte im Gespräch mit der Austria Presse Agentur (APA), dass auch ranghohe Offiziere den Atombombeneinsatz als „militärisch unnötig“ und „moralisch verwerflich“ abgelehnt hätten.

Die US-Bevölkerung stand mit 1945 mit großer Mehrheit hinter dem Atombombenabwurf. Einer Studie des Pew Research Centers zufolge hält auch heute noch eine Mehrheit - 56 Prozent - der US-Amerikaner den Abwurf der beiden Bomben für gerechtfertigt.

Japan Opfer statt Täter

Jahrzehntelang wurde die Katastrophe in Hiroshima instrumentalisiert, die Japaner pflegten ihren plötzlichen Opferstatus, und die US-Amerikaner standen als Architekten des Friedens da - trotz der verheerenden Opferzahlen und die Nachwirkungen durch die radioaktive Strahlung, die bis heute andauern.

Von Atombombe zerstörtes Hiroshima 1945

AP

Hiroshima: Innerhalb eines Sekundenbruchteils dem Erdboden gleichgemacht

Es gibt aber noch andere Gründe, warum die Bombe gefallen ist. Truman musste die immensen Kosten des Nuklearwaffenprogramms rechtfertigen: Bis Ende 1945 hatte es satte 1,9 Milliarden Dollar verschlungen - was knapp 25 Milliarden Dollar (22,3 Mrd. Euro) im heutigen Dollar-Wert entspricht. Zehntausende Wissenschaftler arbeiteten in den USA jahrelang am „Manhattan Project“, dessen Ziel es war, eine einsatzfähige Atombombe zu bauen.

Nachdem der Deutsche Otto Hahn die Kernspaltung 1938 entdeckt hatte, wuchs die Angst, dass Hitler die Technologie zuerst nutzen könnte. Albert Einstein warnte den damaligen US-Präsidenten Roosevelt 1939 in einem Brief und wies auf die Möglichkeit hin, Uran als Material für den Bau von Bomben zu verwenden. Später bezeichnete er seine Warnung als „Fehler“, die USA begannen ab dem Zeitpunkt nämlich mit Hochdruck an der Massenvernichtungswaffe zu arbeiten.

Machtdemonstration der USA

Nicht zuletzt war der Abwurf der beiden - verharmlosend - „Little Boy“ und „Fat Man“ genannten Bomben auch ein Signal an die UdSSR. Die USA wollten Stärke demonstrieren, um den Einfluss der Sowjets in Japan klein zu halten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs waren also gleichzeitig die ersten Salven in einem viel länger dauernden Konflikt: dem Kalten Krieg. Hiroshima und Nagasaki markieren den einzigen Einsatz von Nuklearwaffen in Konflikten und waren der Startschuss für ein beispielloses atomares Wettrüsten. Mitte der 80er Jahre, am Gipfel des Rüstungswettlaufs, lagen etwa 23.300 atomare Sprengsätze in US-Arsenalen, die Gegenseite hatte mehr als 40.100.

B-29-Bomber "Enola Gay" mit Crew

picturedesk.com/EPA/Ho

Die „Enola Gay“ warf als Erste in der Geschichte eine Atombombe ab

Der Gedenktag am 6. August ist jedes Jahr Anlass, um vor der ungeheuren Zerstörungskraft nuklearer Waffen zu warnen. Die japanische Friedensaktivistin Haruko Moritaki erinnert im Gespräch mit der dpa aber auch an die zweifelhafte Vergangenheitsbewältigung ihrer Heimat: „Die Regierung will die Geschichte vergessen machen.“ Sie beklagt, wie die Regierung von Shinzo Abe patriotische Erziehung an den Schulen betreibe, Japans kriegerische Vergangenheit in den Schulbüchern weißwasche und starken Druck auf die Medien ausübe.

Japans Politik in der Kritik

Auch die Überlebenden der Atomangriffe erheben ihre Stimme und üben Kritik an Japans Premier Abe. „Es ist wie vor dem Krieg“, beschreibt Shozo Muneto, der den Angriff auf Hiroshima überlebt hat, die politische Atmosphäre seit Abes Amtsantritt Ende 2012 im Gespräch mit der dpa. Nur wenige Wochen vor dem 70. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima stimmte das mächtige Unterhaus des nationalen Parlaments trotz massiver öffentlicher Proteste für eine Sicherheitsreform. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs will Japan damit wieder Soldaten zu Kampfeinsätzen ins Ausland schicken.

TV-Hinweis

Zum 70. Jahrestag bringt ORF III an drei Samstagen einen „zeit.geschichte“-Schwerpunkt mit zahlreichen Dokumentationen - mehr dazu in tv.orf.at/orfdrei.

70 Jahre nach dem Einsatz der Nuklearwaffen werden noch immer viele Überlebende wegen der langfristigen Folgen der Verstrahlung behandelt. Allein in den japanischen Krankenhäusern des Roten Kreuzes seien Tausende in Behandlung, erklärte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) am Donnerstag. Das japanische Rote Kreuz betreibt in Hiroshima seit 1956 Krankenhäuser zur Behandlung von Opfern der Atombombe, seit 1969 auch in Nagasaki.

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