Der tägliche Kampf ums Überleben
Wer wissen will, warum heuer rund 80.000 Menschen in Österreich um Asyl ansuchen, findet die Antwort in Jordanien. Über eine Million Flüchtlinge aus Syrien sind dort gestrandet. Die Umstände, unter denen sie leben müssen, sind unvorstellbar. ORF.at war mit der Caritas zum Lokalaugenschein in Jordanien.
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Abdel wohnt mit seinen drei Kindern und seiner Frau in einem kleinen Häuschen. Die Miete: völlig überhöht. Als Dach dient eine Metallplatte. Das Wüstenklima macht ihnen deshalb besonders zu schaffen. Im Sommer wird es drückend heiß, im Winter bildet sich Kondenswasser, das von der Decke tropft.
Abdels 14-jährige Tochter ist mehrfach behindert. Sie kann sich nur wenig bewegen, nicht auf die Toilette gehen. Sie ist übergewichtig, leidet unter krampfartigen Anfällen und liegt tagein, tagaus in einem schmucklosen Raum auf einer Matratze auf dem Boden. Abdel ist einer von 625.000 offiziell registrierten syrischen Flüchtlingen, die sich derzeit in Jordanien aufhalten.

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Abdel sieht man die Sorge um seine Familie an
80.000 in einem Flüchtlingslager
Viele, die es nach der beschwerlichen Flucht durch die Wüste, quer durch die Frontlinien im syrischen Bürgerkrieg, zum einzigen noch offenen Grenzübergang nach Jordanien schaffen, lassen sich erst gar nicht registrieren. Entweder fehlt es ihnen am Geld für die Formalitäten, oder sie wollen in kein Camp. Vor allem nicht nach Saatari, das zweitgrößte Flüchtlingslager der Welt mit momentan knapp über 80.000 Einwohnern, ohne Kanalisation und Fließwasser.
Wie viele Syrer sich also tatsächlich in Jordanien aufhalten, darüber kann nur spekuliert werden. Caritas, UNICEF und das offizielle Jordanien sprechen von einer bis eineinhalb Millionen Menschen. Jordanien, umgeben vom Irak, den Palästinensergebieten, Syrien, Saudi-Arabien und Israel, ist seit vielen Jahrzehnten ein großzügiges Aufnahmeland von Flüchtlingen.
„Wir haben selbst nichts mehr“
Mehr als die Hälfte der 6,6 Millionen Jordanier stammt von palästinensischen Flüchtlingen ab. Man geht davon aus, dass sich insgesamt 10,5 Millionen Menschen im Land aufhalten. Die Differenz ergibt sich hauptsächlich durch syrische, ägyptische, irakische, palästinensische und jemenitische Flüchtlinge. Nur: Die arabische Solidarität beginnt zu bröckeln.
„Früher haben wir jedem gerne geholfen“, sagt ein junger Mann. „Aber es sind jetzt einfach zu viele.“ Ein anderer ergänzt: „Wir haben selbst nichts mehr.“ Wegen der Wirtschaftskrise, aber auch wegen der Flüchtlinge wurden die Strom- und Wasserpreise drastisch erhöht. Die Krankenhäuser sind überfüllt – im Wortsinn. Wegen der Raumnot sind die Mieten in manchen Regionen um 300 Prozent gestiegen – und die Immobilienpreise haben sich verdoppelt. Schulstunden mussten gestrichen, Klassenschülerzahlen drastisch erhöht werden, Unterricht findet nun im Schichtbetrieb statt.
Die „verlorene Generation“
Das wird den Syrern angelastet. Zu spüren bekommen es vor allem ihre Kinder. Die Hälfte der Flüchtlinge ist minderjährig – aber nur 50 Prozent von ihnen besuchen eine reguläre Schule. Die jordanische Caritas-Bildungsexpertin Samar S. Bandak sagt, es sei längst eine „verlorene Generation“ entstanden. Zahlreiche Kinder bleiben dem Unterricht fern, weil sie nicht als Flüchtlinge registriert sind oder weil sich ihre Eltern die Kosten für den Schulweg nicht leisten können. Kinderarbeit grassiert, Familien könnten sich sonst das Überleben nicht leisten. Viel zu junge Mädchen werden verheiratet.

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Syrische Mädchen in einer Aufbauklasse während der Ferien
2,7 Millionen syrische Kinder besuchen keine Schule, in Jordanien sind es allein unter den registrierten Flüchtlingen 70.000. Und ein Viertel all jener, die eine Regelschule besuchen, verlässt sie wieder. Salah ist 13 Jahre alt. Täglich wurde er von jordanischen Kindern regelrecht fertiggemacht, bis er es nicht mehr aushielt. Salah hat es noch vergleichsweise gut erwischt, weil er zu jenen 1.600 Schülern zählt, die von der Caritas in Zentren aufgefangen werden, wo sie informell Unterricht erhalten, um nicht den Anschluss zu verlieren.
Kinder des Krieges
Mobbing ist längst nicht alles, was diese Kinder ertragen müssen. Zunächst gilt es, mit dem Trauma des Krieges zu leben. Salahs Freund Abd Al Malek erzählt, in Syrien sei das Haus seiner Familie bombardiert worden. Sein Bruder ist seither ohne Gehör. Zwei Tage seien sie auf der Flucht durch die Wüste geirrt. Seit drei Jahren lebt der 14-Jährige nun in Jordanien. Genauso lange hat er keine Regelschule mehr von innen gesehen. Berufswunsch: keiner. Und die Wohnung, in der er mit seiner Familie lebt, ist in desaströsem Zustand. Im kalten, feuchten Winter regnet es durchs Dach.
Ein dritter Bursch in der Runde möchte nichts zum Thema Krieg sagen. Er hat Tränen in den Augen. Alle lassen ihn in Ruhe. Hier ist man unter sich. Tayma übernimmt, ein 15-jähriges Mädchen, das eine poppig-arabische Kombination in Blau trägt. Sie denkt ständig an den Krieg - und ist gleichzeitig müde, sich damit auseinanderzusetzen. In ihrem Wohnviertel in einer syrischen Stadt rückte die Gewalt immer näher, Entführungen standen an der Tagesordnung. Der Vater gab sein Schuhgeschäft auf, die Familie musste fliehen.
Schicksalsschläge
Noch können sie - Tayma legt die Betonung auf „noch“ - vom Gold leben, das ihre Mutter nach Jordanien gerettet hat. Im Gegensatz dazu ist die Hälfte der Syrer in Jordanien bereits jetzt hoch verschuldet. Tayma und ihre Freunde (Fotos siehe „Die Bilder zu den Geschichten“) wollen zurück nach Hause, nach Syrien. Und wenn das nicht geht, nach Europa. Jordanien ist für keines der Kinder und ihre Familien eine Option. Nur 20 Prozent sind in Camps untergebracht, wo man sich zumindest um das Nötigste kümmert. Die Menschen in den Städten und auf dem Land leben in desaströsen Zuständen. Weil sie sich keine Heizungen leisten können und in den eisigen Nächten des Wüstenwinters deshalb gefundenes Holz in ihren Häusern, Zelten und Hütten abbrennen, werden immer mehr Syrer Opfer der Flammen. Vom UNHCR wurde eigens eine Klinik für Verbrennungen eingerichtet.
Eine Frau lebte in einem Zelt ohne Strom. Drei ihrer vier Kinder starben, nachdem Zeltwände wegen einer Kerze Feuer gefangen hatten. Auch Obdachlosigkeit wird zum Thema. Eine jordanische Caritas-Sozialarbeiterin berichtet über einen psychisch kranken Mann, der regelmäßig in einem Treppenhaus schlief. Er hatte im Krieg auf einen Schlag drei seiner vier Kinder und seine Frau verloren. Mit dem 18-jährigen Sohn rettete er sich nach Jordanien. Der Bursch ging zurück, um die Familie zu rächen - und starb. Der 60-Jährige hält jüngere Menschen, die nett zu ihm sind, für seine Kinder und freut sich, dass sie „doch überlebt“ haben.
Den Tod vor Augen
Ein Arzt in einem Caritas-Zentrum in Mafraq berichtet von stressbedingten Krankheiten, die wegen der Kriegstraumata und Lebensumstände unter den Flüchtlingen grassieren. Viele Kinder würden etwa unter Epilepsie leiden. Mirna W. Albanna, eine psychologische Beraterin, erzählt von einem typischen Fall. Die 13-jährige Rawan hatte in Syrien zu Hause auf der Dachterrasse gespielt. Sie sah das Flugzeug kommen, sie sah die Bomben kommen - aber es war bereits zu spät. Freunde starben bei dem Angriff. Dann musste sie auch noch mitansehen, wie ihr Cousin erschossen wurde.
Das war vor zwei Jahren. Noch immer isoliert sie sich in ihrem Zimmer, hat panische Angst vor lauten Stimmen, vor der Dunkelheit, vor jeder Art von Streit, vor der Polizei, vor Flugzeugen. In der Therapie ist man gerade dabei, sie schrittweise aus der Isolation zu holen und ihr zu helfen, ohne Licht zu schlafen. Es gibt Hunderttausende Kinder wie Rawan, eine Therapie gibt es allerdings nur für die wenigsten.
Der Verlust der Würde
Dass ihre Kinder die Gräuel des Krieges mitansehen mussten, ist für viele Syrer das Schlimmste. Der 40-jährige Kenan berichtet, dass in seine Stadt die Islamisten eingefallen waren. Im Straßenkampf wurde er als Zivilist schwer verletzt: Man warf ihn aus dem vierten Stock eines Hauses. Sein rechtes Ohr ist taub, und er hat ein Metallimplantat im Kiefer. Aber Kenan überlebte. Danach begann die syrische Armee mit ihrem Bombardement. Wie alle syrischen Flüchtlinge in Jordanien darf auch er nicht arbeiten.

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Kenan wird damit aufgezogen, dass er wie Assad aussieht: „Ich bin es nicht!“
Viele der Männer sagen, dass sie der Verlust ihrer Würde - wie sie es empfinden - besonders hart trifft. Syrien war vor dem Krieg ein funktionierendes Land. Kenan besaß ein gut gehendes Restaurant. Jetzt ist er auf Jahre hin zum Nichtstun verdammt und muss um Hilfe bitten. An diesem Punkt hält er inne und starrt lange ins Nichts. Ihm ist es wichtig, seine Geschichte zu erzählen. Fotografieren lassen wollte er sich zunächst jedoch nicht. Weil er auch so schon genug damit aufgezogen wird, dass er Assad ähnlich sieht. „Aber ich bin es nicht“, versichert er augenzwinkernd.
Die Lage wird noch trister
Auch die 38-jährige Iman möchte den Journalisten nicht ziehen lassen, ohne ihre Geschichte erzählt zu haben. Jüngst sah sie sich gezwungen, ihre 17-jährige Tochter zu verheiraten. Mit den anderen zwei Töchtern und vier Söhnen lebt sie mitsamt ihrem Mann in einer viel zu kleinen, schäbigen Wohnung. In Syrien gehörte der Familie ein Elektronikgeschäft. Jetzt müssen sie von fast nichts leben - und dieses Nichts wird noch weniger. Denn ab 1. August streicht das UNO-Welternährungsprogramm WFP mehr als die Hälfte seiner monatlichen Zahlungen für syrische Flüchtlinge.

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Iman (38) sieht sich gezwungen, ihre 17-jährige Tochter zu verheiraten
Die Flüchtlingskrise droht damit zu einer Hungerkrise zu werden. Es ist der zweite harte Schlag nach der Kürzung der Gelder für medizinische Hilfe. Syrer müssen nun einen viermal so hohen Selbstbehalt zahlen als Jordanier, wenn sie nicht zu jener Minderheit zählen, die von der UNICEF, der Caritas oder anderen Hilfsorganisationen versorgt werden.
Caritas in Jordanien
In Jordanien beläuft sich die Hilfe der Caritas Österreich (in Kooperation mit Nachbar in Not und teilweise finanziert von der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit) bisher auf über vier Millionen Euro. Dabei handelte es vorwiegend um die Verteilung von Gutscheinen für Lebensmittel, Hygieneartikel, Küchenutensilien und Winterkleidung sowie Reparaturen und Verbesserungen an Unterkünften und Mietzuschüssen. In Jordanien konnten bis jetzt 70.000 Menschen unterstützt werden. Geholfen wird Flüchtlingen, die außerhalb von Camps wohnen - wie etwa Abdel und seiner Tochter mit Mehrfachbehinderung. Einen Teil der Pressereise nach Jordanien finanzierte die Caritas nicht mit Spenden, sondern mit Sponsorengeldern.
Weniger Geld für Hilfe
Die irische, in Jordanien stationierte UNICEF-Expertin Aoife McDonnell ist eine patente, junge Frau mit viel Humor - und mit Sicherheit keine pessimistische Natur. Und dennoch sieht sie wenig Hoffnung für die nächsten Jahre. Die Vereinten Nationen bekommen immer weniger Geld für syrische Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Die Geberländer sind mit ihren Zahlungen säumig. Dauert eine Krise zu lange, wird die internationale Gemeinschaft der Solidarität müde. Nur dass es sich diesmal um eine der größten, wenn nicht die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg handelt.
Von 20 Millionen Syrern sind über elf Millionen auf der Flucht - also mehr als die Hälfte. 7,6 Millionen sind innerhalb des Landes geflohen, 1,8 Millionen in die Türkei, 1,2 Millionen in den Libanon, 250.000 in den Irak - und eben zwischen einer und 1,5 Millionen nach Jordanien. Die gesamte EU konnte sich jüngst nicht einmal auf eine Verteilung von 60.000 Flüchtlingen einigen. Österreich liegt pro tausend Einwohner gerechnet mit 3,3 Asylwerbern (nicht nur Syrer) in der EU sogar auf Platz drei hinter Schweden (8,4) und Ungarn (4,3). Dieser Wert würde bei Jordanien rund 350 betragen.
Das schöne, friedliche Europa
All diese Zahlen werden nicht kleiner werden. Die meisten Flüchtlinge, die in Jordanien in Betreuungsstellen, in ihren Wohnungen und im Flüchtlingscamp Saatari mit ORF.at gesprochen haben, kennen nur ein Traumziel: nicht Europa - sondern die Rückkehr in ein friedliches Syrien. Nur dass keiner von ihnen in den nächsten Jahren damit rechnet, genauso wenig, wie jemand in Jordanien bleiben will.
Die zweite Wahl ist meist Europa. Warum Europa? Salah, der Bub, dem seine jordanischen Mitschüler so übel mitgespielt haben, muss nicht lange überlegen: „Weil die Länder dort friedlich und schön sind.“ Ein anderer Flüchtling meint: „Weil wir dort in richtigen Wohnungen leben können und freundlich aufgenommen werden.“ Das Wort „Traiskirchen“ sagt ihm nichts.
Simon Hadler, ORF.at, Amman
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