Als Unverträgliches verträglich wurde
Gesamtgeschichtlich gesehen verbrachte der Mensch die längste Zeit seiner Existenz ohne Milch. Erst vor rund 12.000 Jahren fand Milch - Hand in Hand mit der Verbreitung von Agrar- und Viehwirtschaft - mit kleinen Schritten Einzug in die Ernährung des Menschen und half laut Forschern bei seiner Weiterentwicklung und dem Aufbau von Zivilisationen.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Bis heute vertragen rund zwei Drittel der Menschheit nach dem Säuglingsalter keine Milch mehr. Der Grund dafür: Im Laufe der ersten Lebensjahre stoppt der Körper die Produktion von Laktase. Der in der Milch enthaltene Milchzucker kann ohne dieses Enzym nicht mehr aufgespaltet und damit von der Dünndarmschleimhaut aufgenommen werden. Der nicht oder nur teilweise aufgespaltete Milchzucker wandert in den Dickdarm, wo er von Bakterien zersetzt wird. Dabei entstehen Abfallprodukte wie Gase oder Säuren, die zahlreiche Beschwerden verursachen. Aus diesem Grund dürften auch unsere Vorfahren vom Rohmilchkonsum abgesehen haben.
Milch wurde trotzdem Teil des Speiseplans
Doch ganz konnte der Mensch der Flüssigkeit nicht widerstehen: Wie mit Milchfetten behaftete Scherben von Tongefäßen oder siebartige Geräte zur Käseproduktion beweisen, manövrierten die laktoseintoleranten Menschen ihre Unverträglichkeit aus, indem sie aus Rohmilch Produkte wie Butter, Käse oder Joghurt herstellten.
Wo Milch vertragen wird
Die räumliche Verteilung von Laktoseverträglichkeit variiert stark, auch innerhalb von Regionen. Grundsätzlich gibt es in Nordeuropa und Großbritannien hohe Verträglichkeitswerte, niedrig hingegen sind sie beispielsweise in Südostasien und dem Süden Afrikas.
Ein derartiges Sieb aus dem sechsten Jahrtausend vor Beginn unserer Zeitrechnung fand sich beispielsweise in Polen und wurde von einem Forscherteam rund um die Geochemikerin Melanie Roffet-Salque von der Universität Bristol analysiert. Die Scherben, so die im Magazin „Nature“ publizierte Studie, lassen sich der sogenannten Linienbandkeramik-Kultur zuordnen und dürften die bis dato ältesten Zeugnisse von Käseherstellung der Welt sein.
Fermentation als „Workaround“
Die Menschen konnten die neue Kost beschwerdefrei zu sich nehmen, denn wenn Milch weiterverarbeitet wird, verändert sich ihre Zusammensetzung. So wird etwa bei der Fermentation von Milch zu Joghurt ein großer Teil der Laktose in Milchsäure umgewandelt, die wesentlich besser bekömmlich ist als rohe Milch. In Hartkäse etwa findet sich kaum mehr Laktose.
Die Menschen erschlossen damit nicht nur Zugang zu einer neuen und relativ verlässlichen Lebensmittelquelle, sie durften sich auch über einen Nährstoffcocktail aus Eiweiß, Fett, Proteinen, Vitaminen und Kalzium freuen. Die neuen Lebensmittel waren besser halt- und transportierbar, außerdem musste man Vieh nicht schlachten, um an Nahrung zu kommen.
Wertvoller Nahrungsbonus
Joghurt bzw. Käse seien daraufhin der Beschleuniger für den Aufbau von Gesellschaften gewesen, schreibt der Archäologe Adam Maskevich im Blog „The Salt“ für das US-amerikanische National Public Radio. Die Menschen hatten mehr zu essen, was die Gemeinschaften wachsen ließ und sie robuster machte. Diese „sesshaften Joghurtesser“ hätten laut Maskevich die ersten urbanen Zivilisationen der Welt hervorgebracht: „Natürlich halfen eine Menge anderer Lebensmittel, den Aufbau der Zivilisation anzutreiben. Aber Joghurt ist einer der Gründe, warum Menschen im Neolithikum dazu in der Lage waren, die Menschheitsentwicklung anzutreiben.“
Die Entwicklung, von welcher der Archäologe spricht, fußt in der Neolithischen Revolution – dem erstmaligen Aufkommen von Agrar- und Viehwirtschaft, Sesshaftwerdung und Vorratshaltung in der Geschichte der Menschheit. Bis zur Neolithischen Revolution, die etwa 10.000 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung ihren Anfang nahm, schlugen sich die Menschen als Jäger und Sammler durch. Durch diese Lebensweise genossen unsere Vorfahren eine variationsreiche Ernährung, unter anderem bestehend aus Fleisch, Nüssen, Obst und Gemüse.
Als der Mensch auf Agrarwirtschaft umstellte, musste er sich mangels technischer Kenntnisse und dank starker Abhängigkeit vom Klima auf Pflanzen verlassen, die sichere Erträge versprachen. Doch Klima und Schädlingsbefall spielten dabei nicht immer mit, außerdem wuchs die Population kontinuierlich, und es gab immer mehr Mägen zu füllen. Wenn es überhaupt etwas zu ernten gab, waren die Erträge zwar größer, dafür hatte man aber mit Mangelernährung zu kämpfen.
Zusatz zur Agrarwirtschaft
Das schlug sich auch in der Gesundheit der Menschen nieder. Funde aus der frühen Sesshaftigkeit zeigen, dass die neu berufenen Bauern ein gutes Stück kleiner waren als die Generationen davor. Ihre Überreste zeigen Anzeichen von Blutarmut, niedriger Knochendichte und Zahnverfall. Infektionskrankheiten breiteten sich, unter anderem auch dank der Viehhaltung, im engen Verband ungehemmt aus.
In dieser prekären Situation haben Teile der Menschheit im Laufe der Evolution die Fähigkeit entwickelt, die Milch ihres Viehs auch unverarbeitet zu genießen, sprich zu trinken, so Forscher wie Mark Thomas, Professor für evolutionäre Genetik am University College London. Das fand durch eine genetische Mutation statt, die dafür sorgte, dass die Laktaseproduktion das ganze Leben über aufrechterhalten blieb. Diese Laktasepersistenz könnte sich laut Thomas und seinem Team mit der Übernahme der Milchwirtschaft als ein genetisch-kultureller, koevolutionärer Prozess entwickelt haben. Vor allem in Europa breiteten sich die Milchtrinker aus.
Vitamin D, Malaria, Flüssigkeit
Abgesehen von den zusätzlichen Kalorien und Nährstoffen, die das neue Lebensmittel bot, gibt es mehrere zusätzliche Erklärungsansätze für die Entwicklung der Verträglichkeit. Neben dem Ernährungsplus und der Ausfallssicherung für Monate mit schlechten Ernten stellte Milch auch eine relativ keimfreie Flüssigkeit dar, was vor allem in Gegenden mit schlechten Wasservorkommen relevant sein konnte. In sonnenlichtarmen Gegenden konnte die Flüssigkeit ein Plus an Vitamin D bringen und Kalzium liefern. Manche Forscher sehen sogar einen Zusammenhang zwischen Milch und Schutz vor Malaria. Nicht alle Theorien sind unumstritten, und vieles liegt immer noch im Dunkeln.
Links: