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Vom Armutszeichen zum urbanen Lifestyle

Erst vor gut hundert Jahren haben mit der Mobilisierungswelle die Fußwege des Menschen rapide abgenommen. Aus ökologischen, gesundheitlichen, aber auch aus stadtplanerischen Gründen rückt die natürlichste aller Fortbewegungsmethoden wieder in den Vordergrund. Dabei ist die Geschichte des Zufußgehens voller Fehleinschätzungen, und im letzten Jahrhundert wurde wenig Rücksichtnahme auf den Menschen genommen.

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Der Alptraum eines jeden Individualverkehr-Verfechters war im Rom ab dem Jahr 45 vor unserer Zeitrechnung gelebter Alltag: In der Zeit zwischen 6.00 und 16.00 Uhr wurde die Innenstadt für alles, was Räder hatte, gesperrt. Auch die Viehherden mussten draußen bleiben. In den Straßenzügen und in den Gassen war es zu eng geworden. Nur die Transportmittel der Bauarbeiter und Bestatter erhielten Ausnahmegenehmigungen.

Durchgang auf der Wiener Mariahilferstraße

ORF.at/Christian Öser

Früher ein wichtiger Teil der Kultur des Zufußgehens: Hausdurchgänge - beliebte Abkürzungen in den verwinkelten Straßen des alten Wien

Auch sonst wurde auf jene geachtet, die per pedes unterwegs waren: Wer ein neues Haus errichtete, war durch eine Vorschrift gezwungen, an der Fassade großzügige Vordächer anzubringen, um die Passanten vor Regen und Sonne zu schützen. Für Fußgänger befanden sich im gepflasterten Straßenbelag erhöhte Steine für ein trockenes Wechseln der Straßenseite.

Erfolgsmodell City-Sperre

Fußgänger hatten im alten Rom Konjunktur, und sie genossen gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern Vorrang. Nicht zuletzt deshalb, weil sich das Leben in den Straßen und engen Gassen abspielte, die angesichts einer prosperierenden Stadt immer mehr Menschen schlucken mussten. Und das verhängte Innenstadtfahrverbot erwies sich als Erfolgsmodell. Die von Julius Caesar eingeführte City-Sperre wurde im Jahr 50 auf alle italienischen Städte ausgeweitet und im Jahr 125 von Kaiser Hadrian abermals verschärft.

Weniger auf den Beinen

Von solch einer Verkehrsberuhigung können viele Städte heute nur träumen. Seit der Mensch vor gut hundert Jahren den Individualverkehr entdeckt hat – und da war es zunächst das Fahrrad, das die Massen Anfang des 20. Jahrhunderts im großen Stil mobil machte –, nehmen die zu Fuß zurückgelegten Wege kontinuierlich ab. Der Modalsplit, also die Aufschlüsselung der gewählten Verkehrsmittel, weist für den Fußverkehr selbst in den vergangenen beiden Jahrzehnten rückläufige Zahlen aus.

Lag der Anteil der Fußgänger am Gesamtverkehr im Jahr 1993 in Wien bei 28 Prozent, so war es im vergangenen Jahr ein Wert von 26 Prozent. Der Anteil des Autoverkehrs sank in dieser Zeit sogar besonders drastisch von 40 auf 27 Prozent. Die Gewinner sind die Öffentlichen Verkehrsmittel und der Radverkehr. In Graz und Linz lagen die Anteile des Fußverkehrs zuletzt bei 22 und 19 Prozent.

Verachtetes Fußvolk

Dabei ist das Zufußgehen die selbstverständlichste und für manche mitunter wichtigste Sache der Welt. Friedrich Hölderlin schwor ebenso darauf wie Jean Jaques Rousseau, der prinzipiell nur im Gehen denkend produktiv sein wollte. Nicht nur sie stellten eine Nähe des Gehens zum Denken her. Auch Thomas Bernhard sprach mit Überzeugung davon, dass mit der Körperbewegung die Geistesbewegung kommt.

Und dennoch hat das Zufußgehen historisch-gesellschaftlich kein gutes Image. Mussten sich einst alle zu Fuß bewegen, so trat mit den immer vielfältiger werdenden Mobilitätsangeboten auch eine Hierarchisierung der Verkehrsteilnehmer ein. Am untersten Ende waren immer schon die Fußgänger. Johann-Günther König berichtet in seinem Buch „Zu Fuß – Eine Geschichte des Gehens“ von einer sehr frühen Hackordnung unter den Verkehrsteilnehmern. Für viele Ritter sei es gängige Sitte gewesen, Fußgänger zutiefst zu verachten.

Kein Vergnügen

Auch die ersten historisch dokumentierten Fußreisen größerer Verbände erzählen die Bewältigung langer Strecken zu Fuß als Tortur. Insbesondere Caesars Schilderungen des Gallischen Krieges zeugen eindrücklich davon. Die Beschwerlichkeit langer Fußreisen nahmen in Zeiten eines wenig ausgebauten Straßennetzes nur jene in Kauf, die unbedingt mussten.

Das Zufußgehen als individueller Genuss, gesunde Fortbewegungsmethode oder zur Beflügelung des Geistes sollte noch viele Jahrhunderte auf sich warten lassen. Und das Zufußgehen ist für den Menschen etwas dermaßen Banales, dass er es historisch kaum reflektierte.

Die Republik der Fußgänger

Von einer früh geforderten Kultur des Zufußgehens zeugte die Republik der Fußgänger im Frankreich des Revolutionsjahres 1789. Der stark gewachsene Wagenverkehr und die damals außerordentlich schmutzigen Straßen veranlassten die Republikaner, den Ausbau von Gehsteigen und einen generell besseren Schutz vor dem anwachsenden Verkehr, insbesondere in Frankreichs Städten, zu fordern. Nicht ohne Grund: Die Anzahl der Unfälle mit Personenschaden war damals stark angewachsen.

Silhouetten von drei Fußgängern

ORF.at/Christian Öser

Das Zufußgehen in einer für Autos optimierten Stadt

Erst als sich mit dem 19. Jahrhundert die Arbeit von der Freizeit zu trennen begann, wurde das Zufußgehen zum bürgerlichen Vergnügen, das viel Wohlbefinden verspricht. Für die Oberschicht war die Zeit des Flanierens und Spazierengehens angebrochen. Damit einher ging eine theoretische Beschäftigung in Form der Ratgeberliteratur der eben angebrochenen Zeit der Aufklärung. Die richtige Gangart und Schrittwahl war hier ebenso Thema wie eine Etikette des Zufußgehens.

Kurze Wege durch die Stadt

In den damals dreckigen und stinkenden Städten, wo das Zufußgehen ein pragmatischer Akt des Weiterkommens war, ging es weniger um Etikette als um Funktionalität. Die Stadt wurde vollkommen anders genutzt. Es kamen jene schnell durch die verwinkelten Gassen der Stadt, die Kenntnis von den Durchhäusern hatten: Abkürzungen, die durch ganze Häuserblocks führten und damit die Wege erheblich verkürzten. Die Auflistung dieser Durchhäuser war in Wien wichtiger Bestandteil der Adressbücher - etwa der berühmte „Lehmann“ -, die wichtige Hilfe zur Orientierung in der Stadt boten. Einige dieser Durchhäuser existieren heute noch.

All das trat mit der beginnenden Motorisierung des 20. Jahrhunderts in den Hintergrund. Das planerische Denken richtete sich zunehmend auf den Autoverkehr aus. Und wenig verwunderlich, dass die größten Verkehrsplanungsfehler Hand in Hand mit der Motorisierungswelle der 1950er und 1960er Jahre gingen, als der blindwütige Glaube an den Autoverkehr regierte.

Angsträume bleiben ungenutzt

Relikte dieser Zeit sind in Wien die Fußgängerunterführungen. Ursprünglich gut gemeint, zeitigte die Praxis ein anderes Ergebnis als von den Planern intendiert: Kaum ein Fußgänger wollte die verlängerten unterirdischen Wege in Kauf nehmen. Schlecht ausgeleuchtet, tendenziell schlauchartig konstruiert, galten sie schnell als klassische Angsträume, die nur ungern genutzt wurden. Die meisten von ihnen – unter der Wiener Ringstraße, aber auch am Praterstern – haben längst eine andere Funktion. Heute spielt sich dort in Clubs das Nachtleben ab.

Die Nachnutzung dieser toten Infrastruktur, die vor gut zehn Jahren begonnen hat, ist dabei durchaus als Vorbote eines Bewusstseinswandels zu verstehen. Noch nie wurde so viel über die Bedürfnisse des Zufußgehens im städtischen Zusammenhang diskutiert.
Nicht zuletzt aufgrund der emotionalen Debatte rund um die Wiener Mariahilfer Straße. Aber vor allem vor dem Hintergrund einer schnell wachsenden Stadt wie Wien, die darauf achten muss, mit dem zunehmenden Verkehr fertig zu werden. Das Jahr 2015 wurde in Wien sogar zum Jahr des Zufußgehens ausgerufen.

Die Folgen des Gehens

Viele Fußgänger bedeuten aber auch eine Belebung eines jeden Stadtviertels. Sie sind Frequenzbringer für Geschäfte und versprechen urbane Vitalität statt reiner Wohnghettos – ganz abgesehen vom individuellen Gefallen, den sich jeder durch mehr Bewegung tut. Und tariert sich die wachsende Anzahl der Verkehrsteilnehmer und deren gewählte Verkehrsmittel nicht von alleine aus, werden Maßnahmen wie im alten Rom irgendwann ohnehin unumgänglich sein.

Johannes Luxner, ORF.at

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