Uniform, ernsthaft, elegant
In den Herbstkollektionen großer Modehäuser wie Gucci und Prada, aber auch bei den aktuellen Linien von Vivienne Westwood spielt das Geschlecht keine Rolle. Genderneutrale Mode springt aus der Nische auf große Marken über. Die Prämisse: Ein Kleidungsstück muss funktional und ästhetisch sein - ob es für sie oder ihn geschneidert wurde, ist Nebensache.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Sowohl Gucci als auch Prada überraschten bei der Präsentation ihrer Herrenkollektionen für den Herbst 2015. Statt kräftiger Maskulinität stand bei Gucci die Androgynität - das Vermischen von Merkmalen beider Geschlechter - im Vordergrund. Zu sehen gab es unter anderem Damenblusen mit Schleife (Pussy Bows) und Hemden, die aus Spitze gefertigt waren. Konsequenterweise ließ Guccis neuer Chefdesigner Alessandro Michele männliche und weibliche Models in Männermode über den Laufsteg schreiten. Eine „verträumte Zweideutigkeit“ pulsiere durch die Kollektion, wie es vom Konzern hieß.
Miuccia Prada, Mitbegründerin und Chefdesignerin des gleichnamigen Modeunternehmens, verwischte die Geschlechtergrenzen auf andere Weise. Die in dunklen Stoffen gehaltene Herrenherbstkollektion wurde gemeinsam mit der „Vor-Herbst“-Damenkollektion gezeigt. Dabei versuchte Prada nach eigenen Angaben, Ideen für Herrenkleidung auf solche für Damen umzulegen. Momentan müsse Mode „uniform, ernsthaft, elegant“ sein, so die Modeschöpferin.
„Fusion der Kleiderschränke“
Der Einfluss der genderneutralen Mode ist auch in den Frühjahrs- und Sommerkollektionen der Labels Saint Laurent, JW Anderson und Hermes spürbar. Überhaupt sei der Einzug der geschlechtsneutralen Linien in die „Industrie“ einer der derzeit großen Trends der Mode, bilanzierte das Onlinemagazin Quartz. Und der Trend hält an: Bei der New Yorker Fashion Week im Februar 2015 ortete die „New York Times“ das „große Verschwimmen der Geschlechter“. Inspirieren ließ sich auch Designikone Westwood. In ihrer Ende Juni präsentierten Frühlings- und Sommerkollektion 2016 schickte sie Männermodels in T-Shirt-Kleidern und femininem Schuhwerk über den Catwalk.

picturedesk.com/Action Press/Balawa Pics
Auch weibliche Models dürfen Männermode präsentieren: hier Cara Delevingne in der Herrenkollektion von DKNY (Donna Karan New York)
Das Londoner Nobelkaufhaus Selfridges widmete genderneutraler Designerware im März kurzzeitig einen eigenen Bereich. Sobald Selfridges auf einen Trend aufspringt, wisse man, dass er „im Mainstream angekommen ist“, schrieb die britische Zeitung „Guardian“. Der US-amerikansche Onlineshop thecorner eröffnete im Juni einen genderneutralen Verkaufskanal, „als Alternative zur klassischen Zweiteilung in Mann und Frau“.
„Statt sich wie vorher im Kleiderschrank des anderen Geschlechts zu bedienen (Boyfriend-Look für Frauen und Skinny-Jeans für Männer), tragen jetzt beide einfach den gleichen Rock oder die gleiche Jacke. Eine Fusion der Kleiderschränke“, so das Modemagazin „Stylight“.
Geometrie und Übergrößen
Die geschlechterübergreifende Nutzung des Kleiderschranks ist allerdings nur eine Seite der Medaille. Unisex-Mode lasse sich im Wesentlichen an zwei Aspekten festmachen, so Louis Terline, Mitbegründer des US-Labels OAK, gegenüber dem Onlinemagazin Racked: „Einerseits ist da die Idee, dass Männer Frauenkleider tragen und vice versa. Andererseits gibt es Kleidung für dazwischen.“ Im Wesentlichen gilt: Erlaubt ist, was gefällt. Während sich manche Designer in ihren Kollektionen die Stilistiken männlicher und weiblicher Mode zusammenwürfeln oder quer über die Geschlechtergrenzen hinweg Accessoires kombinieren, setzen andere, wie das schwedische Label Acne, auf nahezu idente Linien für Sie und Ihn.

thecorner.com
Zwei Geschlechter, eine Mode: die „No Gender“-Linie des Onlineshops thecorner
Bekleidung für den Raum zwischen den Geschlechtern, das ist die Spezialität von Rad Hourani. Der jordanisch-kanadische Designer gehört zu den bekanntesten Schöpfern von geschlechtsneutraler Mode. Houranis selbst erklärtes Ziel ist die Schaffung von Kleidung, die unabhängig von Trends, Alter und Geschlecht funktioniert. Grundlage für seine Kollektionen ist ein Unisex-Schnittmuster. Dazu sammelte er jahrelang die Körpermaße von Männern und Frauen unterschiedlicher Größe und unterschiedlicher Körperformen. Wie gründlich er dabei vorging, beschrieb Hourani in einem Interview mit Zeit Online: „Ich habe ein Jahr lang gebraucht, um zu verstehen, wie männliche und weibliche Körper funktionieren, wie sie sich bewegen, welche Stellen sie betonen und welche sie verdecken wollen.“
Neben simplen, geometrischen Formen ist die Verwendung von Übergrößen ein beliebtes Mittel zur Aufhebung der Geschlechtergrenzen. Damit wollen Designer einer Tendenz entgegenwirken, die nach der Französischen Revolution ihren Ausgang nahm. Um sich vom Prunk des Adels abzugrenzen, verordnete sich das Bürgertum damals ganz eigene Moderegeln. Statt nach sozialen Klassen wurde nach Geschlechtern getrennt. In der Herrenbekleidung löste Funktionalität das Bunte und Pompöse ab. Bei Frauen hingegen stand die Betonung des Körpers weiterhin im Vordergrund. „Ein Dilemma, an dem sich die Mode bis heute abarbeitet“, kommentierte das Magazin „profil“.
Frauen für Experimente offener
Experimente mit geschlechtsneutraler Mode gab es in der Vergangenheit immer wieder. Ende der 1960er Jahre etwa schufen Edelschneider wie Pierre Cardin futuristische Roben für Sie und Ihn. In den 1990er Jahren versuchte sich Jil Sander an geschlechtsneutralen Stücken, im selben Jahrzehnt erkor Calvin Klein die knabenhafte Kate Moss zur Stilikone.
Der aktuelle geschlechtsneutrale Trend scheint eher Frauen anzusprechen. Aus den Verkaufszahlen sei ersichtlich, dass Frauen wenig Berührungsängste hätten, sich in der Herrenabteilung mit Kleidung einzudecken, sagte eine Sprecherin von Selfridge gegenüber dem Blog Business of Fashion. Bei Männern dürfte es hingegen noch dauern, bis sich Kleidungsstücke wie der Rock durchsetzen.
Buchhinweis
Barbara Vinken: Angezogen. Das Geheimnis der Mode. Klett-Cotta, 250 Seiten, Euro 20,50.
Barbara Vinken ist eine der prononciertesten Kritikerinnen der Unisex-Mode. In ihrem 2013 erschienen Buch „Angezogen. Das Geheimnis der Mode“ vertritt Vinken die These, dass Unisex-Mode mitnichten zum Verschleifen der Körperumrisse geführt habe. Vielmehr sei die erotische männliche Zone - Beine und Po - in die Damenmode übertragen worden. Die weibliche Silhouette sei stets aufs Neue inszeniert worden - daran habe auch Unisex-Mode nichts ändern können.
Philip Pfleger, ORF.at
Links: