Keine griechische Tragödie
Verfilzte Verwaltung, Korruption an der Tagesordnung und dazu noch die Schuldenkrise, die sich zu einer humanitären Katastrophe auszuweiten droht: Gute Nachrichten aus Griechenland sind derzeit Mangelware. Dabei erlebt die zweitgrößte Stadt des Landes, Thessaloniki, eine Renaissance. Grund dafür ist vor allem Giannis Boutaris, ein Ex-Weinbauer, der seit 2011 Bürgermeister der Hafenstadt ist.
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„Von den 5.000 Menschen, die das Rathaus beschäftigt, bräuchte ich höchstens 3.000“, hatte Boutaris im Interview mit der deutschen „tageszeitung“ („taz“) nach seiner Amtsübernahme gesagt. Durch Lohnkürzungen und Frühpensionierungen ist Thessaloniki mittlerweile tatsächlich bei einem Personalstand von 3.200 Beamten angekommen. Entlassungen von Staatsangestellten sind per Gesetz in Griechenland de facto nicht möglich. Die Kosten für die Verwaltung sind ein finanzieller Klotz am Bein vieler griechischen Gemeinden.
Vieles, was in Thessaloniki falsch lief, ist prototypisch für die griechische Wirtschaft. Da wäre einerseits die Korruption: Boutaris’ Vorgänger im Rathaus sitzt mittlerweile wegen Veruntreuung im Gefängnis. 51,4 Mio. Euro hat er aus der Stadtkasse entwendet. Andererseits kämpfen die Städte gegen die weit verbreitete Klientelpolitik der ehemaligen Großparteien und die verfilzte Verwaltung der Städte.
Problemzone Müllabfuhr
Boutaris trat mit dem Versprechen an, mit dem „konservativen Status Quo aufzuräumen“, auch im wortwörtlichen Sinne. Ein häufig zitiertes Beispiel für die Misswirtschaft in Thessaloniki ist - oder besser: war - die Müllabfuhr. Die Stadt ließ viel Geld in die Abfallwirtschaft fließen, die Müllberge auf den Straßen wurden dadurch aber nicht kleiner. Statt die Straßen sauber zu halten, handelten die Mitarbeiter mit Ersatzteilen des Fuhrparks, wie die „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“) berichtete. Nur 20 der 70 Müllfahrzeuge waren einsatzbereit. Als Draufgabe wurden vom Personal fiktive Überstunden verrechnet.

AP/Nikolas Giakoumidis
Eine Frau manövriert durch Müllberge in Thessaloniki
Reformen, Reformen, Reformen
24 Jahre lang herrschte in Thessaloniki die konservative Nea Demokratia (ND), mit der Wahl des parteilosen Boutaris kam es dann zu einem „Klimawandel“ in der Stadtverwaltung. Beamte bekamen erstmals klare Vorgaben, Überstunden wurden begrenzt und Sitzungen des Stadtparlaments im Fernsehen übertragen.
„Boutaris tat etwas eigentlich Naheliegendes: Er heuerte einen Finanzprüfer an, der Thessalonikis Schuldenberg vermessen sollte“, so Gerald Knaus im Gespräch mit ORF.at. Er ist Vorsitzender des Thinktanks ESI, der seit 1999 Forschung in Südosteuropa betreibt.
Das Ergebnis der Finanzprüfung war katastrophal, die Stadt stand bei der Amtsübernahme von Boutaris 2011 mit 115 Mio. Euro in der Kreide. Vier Jahre später weist die Stadt einen Budgetüberschuss vor. Wie die Budgetkonsolidierung trotz anhaltender Krise möglich war, erklärt sich Knaus so: „Enorm viel Geld wurde einfach verschwendet, das Potenzial für Einsparungen war da.“

APA/ORF.at
Im hohen Norden Griechenlands, Teil der Region Makedonien: Thessaloniki
Hochburg des Nationalismus
Eine wirtschaftlicher Wende war in Thessaloniki dringend nötig. In den 90ern steckte die Industriestadt tief in der Krise, Griechenland stand politisch im Abseits. Der grassierende Nationalismus trieb seltsame Blüten. So wurde in Thessaloniki für das serbische Regime unter Slobadan Milosevic und gegen den neu gegründeten Staat Mazedonien demonstriert.
Die Geschichte der Stadt ist turbulent: Byzantinischen Ursprungs, dann 500 Jahre unter osmanischer Herrschaft, wurde Thessaloniki erst 1912 Teil von Griechenland. Die Missionare Kyril und Method, die das Christentum zu den Slawen brachten und die kyrillische Schrift erfanden, wurden in „Saloniki“ geboren. Genauso wie Mustafa Kemal Atatürk, der Gründervater der Türkei.
Multiethnischer Schmelztiegel
Das „Jerusalem des Balkans“ war jahrhundertelang ein kultureller Schmelztiegel. Dass Juden, Griechen, Slawen und Türken hier friedlich zusammen lebten, geriet im 20. Jahrhundert in Vergessenheit. Ein Bevölkerungsaustausch mit der Türkei und die Vernichtung der 56.000 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde durch die Nazis zerstörten das multiethnische Erbe.

Reuters/Alexandros Avramidis
Heinz Kounio, einer der 2.000 Auschwitz-Überlebenden, bei einer Gedenkfeier
Nachdem die Geschichte Thessalonikis jahrzehntelang stiefmütterlich behandelt worden war, hat sie der ehemalige Winzer Boutaris in den Fokus gerückt. „Zu Beginn erntete er für seine türkenfreundliche Politik viel Kritik, er dachte sogar laut über zweisprachige Ortstafeln nach“, so Knaus. Als die Zahlen der Gäste aus Israel und der Türkei in die Höhe schossen, verstummten viele Kritiker. „Für Boutaris ist das kosmopolitische Erbe das Kapital der Stadt“, erläutert der Wissenschaftler Boutaris’ Mittel für den Wirtschaftsaufschwung.
Und der Bürgermeister hat noch mehr in petto: Er träumt von weniger Parkplätzen, einem Ausbau der Solarenergie und einem dichten Netz an Radwegen. Bei Letzterem ist die Umsetzung bereits gelungen, die Zahl der Radgeschäfte hat sich durch den Ausbau verzehnfacht.

APA/AP/Giannis Papanikos
Geht es nach Boutaris, soll es bald mehr Fußgängerzonen geben
Politdinosaurier mit Gecko-Tattoo
Den drahtigen 73-Jährigen, der sich als „Stadtmanager“ versteht, in eine Schublade zu stecken, fällt schwer. Boutaris passt mit seinem Erscheinungsbild - goldener Ohrstecker, Gecko-Tattoo und ein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht - nicht so richtig zum Rest der aktuellen griechischen Spitzenpolitik. Weder zur alten Riege der beiden - ehemaligen - Mainstreamparteien, noch zur neuen SYRIZA-Führung. Im Vergleich zum jungen, dynamischen Premier Alexis Tsipras wirkt der Kette rauchende Boutaris wie ein Politdinosaurier.
Knaus sieht das als Vorteil: „Die Menschen haben kein Vertrauen mehr in die Parteien, auch SYRIZA hat nur eine begrenzte Fangemeinde.“ Quereinsteiger wie Boutaris hätten es einfacher. Dass der Bürgermeister das Vertrauen der Bürger genießt, wurde durch die Wiederwahl eindeutig bewiesen, meint der Wissenschaftler. „Auf der Straße sprechen die Menschen stolz über Boutaris und ihre veränderte Stadt“, so Knaus.

Reuters/Alexandros Avramidis
Thessalonikis Bürgermeister Giannis Boutaris
Gewerkschaften bremsen
Boutaris macht sich freilich mit seinem Reformkurs nicht überall beliebt. Widerstände gegen die Reformen des Bürgermeisters gibt es genügend. Als beispielsweise die Müllabfuhr teilprivatisiert wurde, stiegen die Gewerkschafter auf die Barrikaden und streikten.
Auch sind seine Handlungsspielräume begrenzt: In Griechenland regiert der Zentralismus, wichtige Agenden werden von Athen aus entschieden. Die Städte haben nur begrenzte Entscheidungsbefugnisse, die Unternehmenssteuern fließen direkt in die Hauptstadt. Von dort wird dann nach Gutdünken der Regierung das Geld verteilt.
„Das System muss weg“
Dass die Probleme Thessalonikis nun über Nacht gelöst sind, glaubt niemand. Die Reformbaustellen bleiben zahlreich. Der Bau einer U-Bahn zieht sich schon Jahre hin. Boutaris und die Zentralregierung schieben sich die Verantwortung dafür gegenseitig zu. Auch die Gemeindepolizisten, die er eingestellt hatte, um Ordnung in das Verkehrschaos zu bringen, wurden im Zuge des Sparprogramms wieder entlassen.
Trotzdem, das Positive überwiege, so Knaus: „Boutaris hat bewiesen, dass Reformen auch in Griechenland möglich sind.“ Laut ihm bräuchte der Staat strukturelle Veränderungen, um wieder auf die Beine zu kommen. Thessaloniki probiert den Systemwechsel - oder in Boutaris’ eigenen Worten (gegenüber dem „Spiegel"): Ein kaputtes System kann niemand mehr reparieren. Es muss weg und was Neues her.“
David Tiefenthaler, ORF.at
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