Wiens neue Formen des Bürgerprotests
Die Städte wachsen. Immer mehr Menschen strömen in die Ballungsräume Europas. Dringend muss Wohnraum geschaffen werden. Bauträger, Investoren und Politiker treiben die Bautätigkeit voran. Mit dieser Entwicklung hat der Kampf um die letzten Freiräume der Stadt begonnen. In Wien stemmen sich immer öfter Bürgerinitiativen gegen die Bebauung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums.
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Was in Wien ein eher neuer Trend ist, ist in anderen Großstädten längst Usus. In Hamburg verhinderten Tausende Menschen den Verkauf und Abriss des historischen Gängeviertels. In Berlin vereitelten Bürgerinitiativen die Bebauung und Privatisierung des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Beide Städte haben eine lange Tradition des Widerstands. Die Hamburger Hafenstraße und der Berliner Stadtteil Kreuzberg sind Symbole für Rebellion und Auflehnung.
Der Aufstand des Wiener Bürgers
In Wien war es im Vergleich dazu immer eher ruhig. Doch je stärker die Stadt wächst, desto größer wird auch hier der Widerstand des Bürgers gegen die Verbauung öffentlicher Flächen oder deren kommerzielle Nutzung. Dieser äußert sich in Protesten und in der Gründung von Bürgerinitiativen. Zuletzt stiegen Bewohner des zweiten Wiener Gemeindebezirks und die Bürgerinitiative „Kaiserwiese Für Alle!“ auf die Barrikaden.
Sie sehen den Erholungswert der Kaiserwiese im Prater durch zu lange Veranstaltungen wie das „Wiener Wiesn“-Fest oder die Dinnershow „Palazzo“ gefährdet. „Wir treten gegen eine Kommerzialisierung der Kaiserwiese und gegen eine Schrumpfung des Praters ein. Die Wiese soll ein konsumfreier Raum bleiben“, sagt Eric Kläring, Sprecher der Initiative.

Willfried Gredler-Oxenbauer/picturedesk.com
Die Initiative fürchtet die Umwandlung der Wiese in eine Veranstaltungsfläche
Auch nach den Veranstaltungen war die Wiese wochenlang abgesperrt, weil der Rasen völlig zerstört war. Die Aktivisten brachten 3.200 Protestunterschriften im Petitionsausschuss ein und fordern eine Reduktion auf 30 Veranstaltungstage. Ob noch heuer eine endgültige Entscheidung über die Zukunft der Kaiserwiese fallen wird, ist fraglich. Einen Erfolg konnte die Initiative jedoch schon für sich verbuchen, denn „Palazzo“ hat im Mai bekanntgegeben, im Herbst nicht mehr im Prater zu gastieren.
„Donaucanale Für Alle!“
Ein weiterer Schauplatz erkämpfter Bürgerbeteiligung spielt ebenso im zweiten Bezirk. Zwischen Augarten- und Franzensbrücke entwickelte sich der Donaukanal in den vergangenen Jahren zu einer beliebten Gastronomiemeile. Lokale und Imbissstände eröffneten, künstliche Strände wurden angelegt. Nur gegenüber dem Ringturm, am Sonnenufer des Kanals, liegt die letzte unverbaute Wiese des Teilstücks. Sie ist eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten, in Innenstadtnähe am Kanal zu sitzen, ohne Getränke oder Speisen konsumieren zu müssen. An schönen Tagen wird sie von Pensionisten, Studenten, Obdachlosen und Sportlern gleichermaßen genutzt.
Die Bürgerinitiative „Donaucanale Für Alle!“ hat in den letzten Monaten die Pläne eines Investors, hier den Eventbereich „Sky and Sand“ mit 800 Sitzplätzen zu errichten, durchkreuzt. Anfang Juli entschied sich der Fachbeirat für Stadtplanung und Stadtgestaltung gegen die Bebauung der Fläche, wie der „Standard“ berichtete. Obwohl sich der Leopoldstädter Bezirksvorsteher Karlheinz Hora von Anfang an für das Projekt einsetzte, haben die Demonstrationen, gesammelten Unterschriften und Protestpicknicks gefruchtet.
Mitsprache und Partizipation
Protestformen wie diese schossen in den vergangenen Jahren wie Pilze aus dem Boden. Den Initiativen geht es verstärkt um ihr Recht auf Mitsprache und Mitgestaltung. Sie setzen sich für die Öffnung der Schmelz - eines von Schrebergärten und nicht öffentlichen Sportanlagen dominierten ehemaligen Exerzierplatzes - für alle Bewohner ein oder fordern eine kreative Nutzung des Geländes des ehemaligen Gaswerks Leopoldau. Dabei versuchen sie eine öffentliche Grundsatzdebatte über die Kultur der Wiener Stadtplanung zu entfachen.
"Diese neuen Bürgerinitiativen fordern ein Recht auf öffentlichen Raum beziehungsweise wollen diesen vor Privatisierung schützen, weil sie erkennen, wie sehr der öffentliche Raum das nächste Eroberungsziel neoliberaler Privatisierung ist, die zum Teil von der Sadtpolitik selbst mitforciert wird, sagt die Architektin nud Stadtplanerin Gabu Heindl. Meist rekrutieren sich die neuen Initiativen aus Stadtforschern, Architekten und Aktivisten, die sich mit dem Recht-auf-Stadt-Diskurs auseinandersetzen.
Auf den Spuren Lefebvres
In seinem Buch „Le droit a la ville“ („Recht auf Stadt“) entwarf der französische Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre 1968 das Recht auf Stadt als Recht auf ein transformiertes, erneuertes urbanes Leben. Lefebvre plädierte für eine emanzipierte, urbane Gesellschaft, für ein gesamtgesellschaftliches Anrecht auf kollektiv gestalteten und genutzten städtischen Raum. Diese Forderung wurde von den neuen Protestbewegungen aufgenommen. Sie widersetzen sich Gentrifizierungprozessen, suchen Antworten auf urbane Probleme wie prekäre Wohn- und Lebensverhältnisse und üben Gesellschaftskritik.
Die entstandene Diskussion scheint immer mehr Bürger für die Probleme der Stadt zu sensibilisieren. Das wachsende Engagement äußert sich seit Jahren in Phänomenen wie Urban Gardening oder in selbst gezimmerten Parkbänken. Der Kampf um den Erhalt von Freiräumen und öffentlichen Plätzen erlebt einen regelrechten Boom und zwingt die Stadtregierung, ihre Planungspolitik zu überdenken.
Matthias Winterer, ORF.at
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