Themenüberblick

Ein Film wie ein Banküberfall

Das Interview mit Sebastian Schipper findet im Wiener Filmcasino statt. Immer wieder klopfen Leute an die Glastür und versuchen, Tickets für die ausverkaufte Galapremiere von „Victoria“ zu bekommen. Schipper grinst und freut sich wie ein Kind. Nach über 20 Jahren im Filmgeschäft hat der ehemalige „Tatort“-Kommissar mit seinem radikalen Echtzeitthriller den ganz großen Coup als Regisseur gelandet.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

ORF.at: Herr Schipper, in Ihrem Film „Victoria“ geht es um vier Leute, die mitten in der Nacht spontan einen Bankraub machen. Man denkt sich: Das geht doch nicht gut! Mit ihrem Film ist es so ähnlich: 140 Minuten in einer Einstellung. Da haben Sie auch etwas durchgezogen, was niemand für möglich gehalten hätte.

Sebastian Schipper: Ja, total. Und ich würde auch über mein Team sagen: Wir sind eher Komplizen als Freunde. Ich benutze für den Film gern ein Zitat von Francis Ford Coppola. Auf „Victoria“ angewandt würde es lauten: „Victoria“ ist kein Film über einen Banküberfall. „Victoria“ ist ein Banküberfall.

Regisseur Sebastian Schipper

ORF.at/Maya McKechneay

Regisseur Sebastian Schipper

ORF.at: Das Komplizenhafte überträgt sich auch beim Ansehen: Man hat das Gefühl, die Schauspieler teilen ein Geheimnis. Die haben so was Verschmitztes.

Schipper: Wir Filmemacher müssen einsehen, dass die Leute nicht nur das sehen, was wir glauben, ihnen zu zeigen. Wenn ich an die großen Filme denke, die mich so bewegt und berührt haben, dann sind das oft Arbeiten, in denen die eigene Entstehungsgeschichte spürbar wird. Wir spüren, dass die Amerikaner beim Dreh für „Apocalypse Now“ im Dschungel wirklich dem Wahnsinn begegnet sind. Aber man fühlt auch die spielerische Stimmung, in der Godard und seine Verbündeten „Außer Atem“ gedreht haben. Heute gibt es so eine hohe Professionalität beim Filmemachen, in der jeder immer schon weiß, wie alles geht. Das ist wie ein Ritual, in dem alles festgeschrieben ist. Aber geht’s denn wirklich darum? Film ist doch auch Kunst. Und Kunst heißt für mich auch Wahnsinn und Unbedingtheit.

ORF.at: Interessant, welche Filmemacher Sie jetzt gerade genannt haben. Zu Ihrem Film könnte einem auch John Cassavetes einfallen, der mit seinen Darstellern eine Art Bande gebildet hat. Der war im Übrigen auch Schauspieler wie Sie und hat gelegentlich in Kommerzproduktionen mitgespielt, um eigene Arbeiten zu finanzieren ...

Schipper: (lacht) Der hat wahrscheinlich mehr verdient als ich! So billig kann man Filme dann doch nicht machen. Aber ich muss zugeben, dass ich kein Cassavetes-Afficionado bin. Ich liebe da doch die Form viel mehr. „Victoria“ hat ja eine sehr genaue Form. Es gab da mal eine Renaissance des Kinos in den 60er und 70er Jahren. Da ist alles passiert: Godard, Truffaut, Scorsese, Bergman, Herzog, Wenders, Fassbinder. Die kann man nicht einfach kopieren und das Gleiche noch mal machen. Ich habe großen Respekt vor den Filmemachern, die ich genannt habe, und auch vor John Cassavetes. Aber mein Gefühl ist: Wir können in deren Kirche eine Kerze anzünden. Aber dann müssen wir raus und was Eigenes machen.

ORF.at: Vorhin haben Sie den Film als Kunst und den Wahnsinn als seine Triebfeder verteidigt. Ist „Victoria“ eigentlich auch eine Trotzreaktion auf Formate, an denen Sie mitarbeiten und in denen alles vorgegeben ist, wie den „Tatort“?

Schipper: Wer sagt das? Wer sagt, dass im „Tatort“ alles vorgegeben sein muss?

ORF.at: Ist es nicht so? Die Drehbücher sind doch von den TV-Redakteuren abgesegnet. Da bleibt beim Drehen wenig Spielraum.

Schipper: Ja, aber es müsste nicht so sein! Euren „Tatort“ aus Wien finde ich zum Beispiel im Vergleich richtig super. Nur insgesamt bringt dieses Format die ganze Misere auf den Punkt: Man beauftragt doch auch nicht Museen damit, ihre eigene Kunst herzustellen. Bei so einer Produktion mitzumachen bringt einfach keinen Spaß. Alles ist eng und uninspiriert. Da steht man dann vor der Wahl, das Format zu verändern oder irgendwann zu gehen.

Wotan Wilke Moehring und Sebastian Schipper am Set von "Tatort"

picturedesk.com/dpa Picture Alliance/Eventpress RH

Schipper als „Tatort“-Kommissar (l.)

ORF.at: Sie sind nicht mehr „Tatort“-Kommissar in Hamburg? Letztes Jahr waren Sie doch noch zu sehen.

Schipper: Und erinnern Sie sich, wie kurz? „Frohe Ostern, Falke“ war der letzte „Tatort“ mit mir. Niemand weiß eigentlich, dass ich da ausgestiegen bin. Und die Art, wie so eine Rolle verabschiedet wird, sagt auch viel über ein Verhältnis aus. Ich war da immer ein geächteter Außenseiter. Um das Ganze positiv auszudrücken: Man kann die Leute, mit denen man bei solchen Produktionen zusammenarbeitet, auch dazu anstiften, was Besseres zu machen.

Frank Giering, Julia Hummer im Film "Absolute Giganten"

picturedesk.com/United Archives/90061

Szene aus Schippers früherem Film „Absolute Giganten“, mit Julia Hummer und Frank Giering als Liebespaar

ORF.at: Reden wir also wieder über „Victoria“: Sie haben da eine tolle weibliche Hauptfigur geschrieben.

Schipper: Nicht ich allein. Die habe ich gemeinsam mit Olivia Neergaard-Holm entwickelt, die früher meine Cutterin war und jetzt meine Drehbuch-Koautorin ist.

ORF.at: Man sieht Victoria das erste Mal in einer Disco, wo sie - wie wir in Österreich sagen würden - den Barkeeper anbrät.

Schipper: Es hat lang gedauert, bis Victoria das war, was sie ist: Zuerst haben wir nur ein liebes Mädchen gesehen, das auf die dunkle Seite gerät. Irgendwann wurde uns klar, viel spannender ist doch eine Idealistin, die mal etwas Größenwahnsinniges tun will. Deswegen heißt sie auch so: Victoria. Wenn man genau beobachtet, ist sie es auch, die den Banküberfall geradezu fordert, die Einzige, die ihn wirklich will und durchzieht.

ORF.at: Eine Frau, die arg sein will. Das gibt es im deutschen Kino nicht so oft, oder?

Schipper: Ich sehe meinen Film auch eher in der Tradition des Film Noir: Spielt in der Nacht, schnell, voller Energie, billig, mit einer starken Frauenfigur. Diese Filme sind damals auch am Rande der Industrie und mit voller Lust am Kino entstanden.

ORF.at: Nur dass die Geschichte bei Ihnen auf etwas anderes zusteuert als beim klassischen Noir mit Humphrey Bogart: Die Frau wird zur Beschützerin der Männer.

Schipper: Stimmt. Ich kann mich erinnern, dass ich mal zu Freddy (Hauptdarsteller Frederick Lau, Anm.) gesagt habe: Freddy, wenn’s richtig drauf ankommt, dann sind die Frauen stärker als wir. Ein paar Tage später kam er zu mir und sagte: Alder, hab ich nochmal drüber nachgedacht, da haste recht. (lacht)

Das Gespräch führte Maya McKechneay, ORF.at