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Derjenige, um den es bei der Parlamentswahl in der Türkei vor allem geht, tritt gar nicht an: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Die rund 57 Millionen Wählerinnen und Wähler stimmten am Sonntag nicht nur über die neue Zusammensetzung des Parlaments in Ankara und eine neue Regierung ab, sie stellten auch die Weichen für oder gegen Erdogan.

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Denn Erdogan will bei der Parlamentswahl für die Regierungspartei AKP eine Zweidrittelmehrheit holen, um die Verfassung im Alleingang ändern zu können. Mit der Verfassungsänderung will Erdogan seine Macht als Staatsoberhaupt ausweiten - und vor allem absichern.

Kleinste Oppositionspartei in Schlüsselrolle

Zehnprozenthürde

In der Türkei müssen Parteien mindestens zehn Prozent der Stimmen gewinnen, um ins Parlament einziehen zu können. Diese Zehnprozenthürde zu überspringen ist für kleine Parteien und Minderheiten schwierig.

Ausgerechnet das Ergebnis der kleinsten Oppositionspartei, der prokurdischen HDP, wird am Sonntag mit Spannung erwartet, kommt ihr doch eine Schlüsselrolle bei der Wahl zu. Vom Abschneiden der HDP könnte der weitere Kurs der Türkei abhängen - und die Frage, ob Erdogan zum allmächtigen Präsidenten wird: Schafft die HDP den Sprung ins Parlament, könnte die AKP nicht nur die absolute Mehrheit verlieren, vor allem wäre es dann so gut wie ausgeschlossen, dass die AKP die für die Verfassungsänderung notwendigen 330 Sitze im Parlament in Ankara gewinnt. Bleibt die HDP draußen, profitiert vor allem die AKP.

Drei Tage vor der Wahl sagte eine Umfrage allerdings der AKP mit 41 Prozent den Verlust ihrer Mehrheit voraus. Seit vergangener Woche ist die Veröffentlichung von Umfragen zur Wahl zwar offiziell verboten, nach Medienberichten sickerte die vertrauliche und nur für einen begrenzten Kundenkreis bestimmte Umfrage des Instituts Konda dennoch an die Öffentlichkeit durch.

Die HDP kann laut dieser Umfrage mit 12,6 Prozent fest mit dem Einzug ins Parlament rechnen. Laut anderen Umfragen ist es allerdings unsicher, ob die HDP die Zehnprozenthürde überspringen kann.

Explosion auf Wahlveranstaltung

Der Endspurt des Wahlkampfs wurde noch von einem tödlichen Anschlag überschattet. Bei einer Wahlveranstaltung der HDP in Diyarbakir seien am Freitag selbst gebastelte Bomben ausgelöst worden, sagte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Dabei explodierten ein Mülleimer und ein Transformator. Bei einer der Detonationen sei eine mit Kugellagern, Nägeln und anderen Metallteilen gefüllte Glasflasche in die Luft gegangen, so ein Vertreter der Sicherheitsbehörde.

Bei den Explosionen wurden mindestens drei Menschen getötet und mehr als 200 verletzt wurden. Erdogan sprach von einer Provokation und kündigte an, die Sicherheitsvorkehrungen vor der Parlamentswahl am Sonntag zu verschärfen. Am Samstag bestätigte Agrarminister Mehdi Eker den Anschlag. Bei der ersten Explosion am Freitag habe es sich mit Sicherheit um den Sprengstoff TNT gehandelt.

Skepsis über Erdogans Pläne bringt HDP Stimmen

Normalerweise liegt die Reichweite türkischer Kurdenparteien bei etwa fünf bis sechs Prozent, doch der 42-jährige HDP-Chef Selahattin Demirtas hat seine Partei als linksliberale Reformkraft aufgestellt, die als Sammelbecken für alle Unzufriedene fungieren soll. Da ein beträchtlicher Teil der türkischen Wähler die Vision Erdogans mit Misstrauen sieht, erlebte die HDP in den vergangenen Monaten in Umfragen einen rasanten Aufschwung. Ob der Boom reicht, um die Partei über die zehn Prozent zu tragen, ist unsicher: Weil sich die Partei für die entscheidenden Prozente auf Wechselwähler verlassen muss, sind verlässliche Vorhersagen schwierig.

Grafik zu den Parlamentswahlen in der Türkei

APA/ORF.at

„Die HDP braucht nichtkurdische Wähler, um über die Hürde zu kommen“, sagte der Meinungsforscher Özer Sencar der Zeitung „Today’s Zaman“. Demirtas tut, was er kann, um die bei Regierungskritikern, aber auch in der Regierungspartei AKP selbst vorhandene Skepsis über Erdogans Präsidialpläne anzufachen. „Selbst einige AKP-Funktionäre beten, dass wir über die Hürde kommen“, sagte er kürzlich bei einer Wahlkampfveranstaltung.

Opposition warnt vor Machtkonzentration

„Die Schlüsselfrage der Wahl ist, ob Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Macht in der Türkei durch die Einführung eines Präsidialsystems festigen kann“, sagt Fadi Hakura vom Thinktank Chatham House in London. Sollte die AKP die absolute Mehrheit verfehlen, dürfte Erdogans Machtposition beschädigt sein.

Türkischer Präsident Recep Tayyip Erdogan

APA/AP/Lefteris Pitarakis

Erdogan, der als Präsident nicht zur Wahl steht, war im türkischen Wahlkampf allgegenwärtig

Erdogan wurde im August letzten Jahres nach elf Jahren als Regierungschef zum ersten direkt vom Volk gewählten Präsidenten gewählt. Schon unmittelbar nach seinem Amtsantritt hatte er angekündigt, das bestehende parlamentarische System in der Türkei per Verfassungsänderung in ein Präsidialsystem umwandeln zu wollen. Wie das System aussehen soll, welche Rolle darin Ministerpräsident und Parlament spielen sollen - dazu machen weder die AKP noch Erdogan Angaben. Oppositionspolitiker befürchten, dass Erdogan nach einer Verfassungsänderung zum uneingeschränkten Machthaber wird. Demirtas warnte gar vor einer Diktatur.

Verunsicherung in AKP

Erdogan hingegen setzte im Wahlkampf alles daran, die Wähler von einer Entscheidung für die HDP abzuhalten. Er griff die Kurdenpartei wegen ihrer angeblichen Nähe zur verbotenen Rebellengruppe PKK an und stellte mit Blick auf die vielen islamisch-konservativen kurdischen Wähler die Frage, ob Demirtas und der Rest der HDP wirklich gute Muslime seien. „Die Leute in den Bergen haben nichts mit dem Islam zu tun“, sagte Erdogan im Wahlkampf. Einige Beobachter sehen Erdogans scharfe Worte als Zeichen der Verunsicherung.

Offiziell gibt sich die AKP zwar gelassen, doch hin und wieder lassen Äußerungen von Spitzenpolitikern erkennen, wie besorgt die Regierungspartei um den Verlust der Mehrheit ist. So warnte Finanzminister Mehmet Simsek die Wähler kürzlich, eine Koalitionsregierung könnte der Türkei den wirtschaftlichen Kollaps bescheren.

Unter der AKP erzielte die Türkei erst wirtschaftliche Fortschritte - ein wesentliches Argument dafür, warum die von Erdogan mitgegründete Partei seit 2002 bei jeder Parlamentswahl stärkste Kraft wurde. Erdogans Regierungsstil wurde immer autoritärer. Die Gezi-Proteste im Sommer 2013 ließ er von der Polizei niederknüppeln. Auf Korruptionsermittlungen reagierte die Regierung, indem sie unbequeme Polizisten und Staatsanwälte entmachtete. Der EU-Beitrittsprozess liegt auf Eis, die Wirtschaft läuft längst nicht mehr rund, und auch der Friedensprozess mit der PKK droht zu scheitern.

Journalist bedroht: „Wird hohen Preis bezahlen“

Erst vor wenigen Tagen drohte Erdogan dem Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, wegen eines regierungskritischen Berichts, er werde „einen hohen Preis bezahlen“. „Cumhuriyet“ hatte zuvor Aufnahmen veröffentlicht, die eine Waffenlieferung für Extremisten in Syrien aus der Türkei Anfang 2014 belegen sollen. Nach Darstellung der türkischen Regierung handelte es sich bei der Lieferung um Hilfsgüter.

Nach Angaben der regierungsnahen Nachrichtenagentur Anadolu stellte Erdogan kurz nach seiner Drohung persönlich Strafanzeige gegen den Regierungskritiker. Das geforderte Strafmaß soll sich nach Angaben Dündars auf Twitter auf zweimal lebenslänglich und 42 Jahre Haft belaufen.

Türkische Prominente wie Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk solidarisierten sich in der Mittwochsausgabe der „Cumhuriyet“ mit Dündar. Pamuk schrieb, die Pressefreiheit sei ein unverzichtbarer Teil der Demokratie und dürfe der Aufregung und dem Ärger vor der Wahl nicht zum Opfer fallen.

Streit über „vergoldete Klobrillen“

Eine größere Rolle im türkischen Wahlkampf spielte wenige Tage vor der Wahl auch ein Streit um „vergoldete Klobrillen“. Erdogan drohte dem Chef der Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, mit einer Klage, weil dieser angeblich von „vergoldeten Klobrillen“ im Präsidentenpalast sprach.

Erdogans Anwälte forderten 100.000 Lira (rund 34.000 Euro) Schadenersatz von Kilicdaroglu, meldete am Dienstag die Nachrichtenagentur Anadolu. Kilicdaroglu hatte eine Woche vor der Wahl in Izmir laut Anadolu zwar von „vergoldeten Klobrillen“ gesprochen, diese aber nicht explizit in Erdogans Palast verortet. Erdogan hatte Kilicdaroglu daraufhin aufgefordert, den Palast nach vergoldeten Klobrillen zu durchsuchen. „Sollte er fündig werden, trete ich als Präsident zurück“, sagte Erdogan bei einem Fernsehauftritt.

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