Die Goldene Palme - in Griffweite
Als Jurypräsidenten haben es die Brüder Coen bei den 68. Filmfestspielen in Cannes nicht leicht: Im Wettbewerb konkurrieren vielversprechende neue Filme von Gus Van Sant, Nanni Moretti, Paolo Sorrentino und Matteo Garrone. Filmemacherinnen muss man in der prestigeträchtigen Hauptsektion allerdings mit der Lupe suchen. Immerhin: Cannes ehrt Nouvelle-Vague-Ikone Agnes Varda für ihr Lebenswerk.
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Nach vergangenen Ausgaben des weltweit wichtigsten Filmfestivals wurde immer wieder der Vorwurf laut, es gebe zwar genug weibliche Schauspielstars auf dem roten Teppich, aber zu wenige Regisseurinnen im Programm. Dem will Cannes-Direktor Thierry Fremaux heuer wohl schon zu Beginn die Stirn bieten: Der sozial engagierte Eröffnungsfilm „La Tete haute“ („Standing Tall“) stammt von der französischen Regisseurin und Schauspielerin Emmanuelle Bercot. Catherine Deneuve spielt darin eine Jugendrichterin, die einen ihrer Delinquenten vor dem Absturz bewahren will.
Das Filmfestival
Das 1946 gegründete Festival de Cannes ist das berühmteste und größte A-Festival der Welt. Als solches zeigt es ausschließlich Weltpremieren und internationale Premieren. Auch sein roter Teppich mit den Auftritten internationaler Stars macht Cannes zu einem Mediengroßereignis.
Der Wettbewerb selbst ist allerdings auch in diesem Jahr klar männlich dominiert. Von neunzehn Filmen stammen gerade einmal zwei von Frauen, beide sind Französinnen und starteten ihre Karriere im Schauspielfach: „Marguerite & Julien“ von Valerie Donzelli erzählt im Stil eines Märchens von der verbotenen Liebe zwischen Geschwistern. „Mon Roi“ von Maiwenn ist das elegische Drama einer Frau, die nach einem Skiunfall Liebe und Leben überdenkt. In der Hauptrolle zu sehen ist Bercot, die Regisseurin des Eröffnungsfilms. Fast scheint es, als müsste man sich die Akzeptanz als Macherin in Cannes erst einmal erspielen.
Fabelwesen und verlogene 50er Jahre
In der großen Jury haben heuer die Brüder Coen den Vorsitz. Gemeinsam mit sieben Jurykollegen, darunter die Schauspieler Sienna Miller, Sophie Marceau und Jake Gyllenhaal, bleibt ihnen die Qual der Wahl: Denn in der Konkurrenz treten diesmal so überraschende Werke an wie Matteo Garrones „Il Racconto dei Racconti“ („Tale of Tales“), eine opulente Märchenoper, die „Pans Labyrinth“-Regisseur Guillermo del Toro, der ebenfalls in der Wettbewerbsjury sitzt, gefallen dürfte.

sixpackfilm
Peter Tscherkassky: „The Exquisite Corpus“
An Del Toros eigene Fantasiewelten erinnern nämlich die Schneckenwesen, Faune und Lindwürmer, die „Tale of Tales“ bevölkern. Vorlage waren die Barockmärchen des neapolitanischen Dichters Giambattista Basile, der frühe Versionen von „Aschenputtel“ und „Die sieben Raben“ lang vor den Brüdern Grimm zu Papier brachte.
Patricia Highsmith, Rooney Mara, Cate Blanchett
Freuen darf man sich auch auf Todd Haynes Verfilmung einer lesbischen Liebesgeschichte, die Patricia Highsmith 1952 unter einem Pseudonym veröffentlichte: In „Carol“ spielen Cate Blanchett und Rooney Mara eine verheiratete Frau und eine junge, unkonventionelle Bühnenbildnerin, die in den 50er Jahren entdecken, dass ihre Freundschaft mehr ist, als das prüde Umfeld ihnen zugesteht.

Festival de Cannes/UGC Distribution
Rooney Mara (l.) und Cate Blanchett in „Carol“
Wie schon im Fifties-Melodram „Far from Heaven“ schwelgt Regisseur Haynes dabei in den Farben und Kostümen der Ära. Und vielleicht gelingt ihm, was Abdellatif Kechiche mit „Blue is the Warmest Colour“ vor zwei Jahren gelang: mit einer weiteren Frau-Frau-Liebesgeschichte die Goldene Palme zu gewinnen.
Geheimer Charmefavorit: Sorrentinos „Youth“
Als Favorit der medialen Aufmerksamkeit blitzt - neben Van Sants Mystery-Drama „Sea of Trees“ mit Matthew McConaughey und Naomi Watts - aber schon jetzt der Schalk von Paolo Sorrentinos „Youth“ aus dem Wettbewerb hervor. Der temporeiche Trailer lässt einen Mikrokosmos a la Wes Anderson erwarten: ein kleines Alpenhotel, in dem zwei gealterte Maestros - Harvey Keitel als Regisseur, Michael Caine als Komponist a. D. - wehmütig jungen Körpern im Pool nachträumen, bevor sie beschließen, ihrem Ruhestand ein radikales Ende zu setzen.

Festival de Cannes
„Youth“: Michael Caine (l.) und Harvey Keitel
Mit Hou Hsiao Hsien („The Assassin“), Jia Zhan-Ke („Mountains May Depart“) und Kore-eda Hirokazu („Our Little Sister“) sind gleich drei große Regisseure aus Asien im Wettbewerb vertreten. Aus Deutschland oder Österreich befindet sich dagegen kein einziger Langfilm an der Croisette. Zwei österreichische Kurzfilme halten tapfer das rot-weiß-rote Banner hoch: Peter Tscherkassky verhandelt in seinem 35mm-Experimentalfilm „The Exquisite Corpus“ das Ende genau dieses Formats. Und Patrick Vollrath, Student in der Klasse Michael Hanekes an der Wiener Filmakademie ist mit seinem halbstündigen Vater-Tochter-Drama „Alles Wird Gut“ in der Semaine de la Critique vertreten (siehe Interview).
Neues von Woody Allen, Natalie Portman und Pixar
Große Namen finden sich übrigens auch in den Seitenschienen: Hier präsentiert außer Konkurrenz Woody Allen seine Campuskomödie „Irrational Man“, in der diesmal Joaquin Phoenix Allens Alter Ego, einen Philosophieprofessor in der Midlife-Crisis, verkörpert. Die neue Pixar-Familienkomödie „Inside Out“ wird hier ebenso medienwirksam promotet wie der düstere Actionreißer „Mad Max – Fury Road“.
TV-Hinweise
Der kommende „kultur.montag“ sendet ab 22.30 Uhr in ORF2 einen Cannes-Schwerpunkt - mehr dazu in tv.ORF.at.
Am Sonntag, dem 24. Mai, sendet ORF2 ab 23.30 Uhr „Stars unter Palmen - Die Preisverleihung der 68. Filmfestspiele von Cannes“ - mehr dazu in tv.ORF.at.
Eine weitere, mit Spannung erwartete Premiere in der Special-Screenings-Sektion ist Natalie Portmans Adaption des autobiografischen Romans „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ des israelischen Schriftstellers Amos Oz. Die in Israel gebürtige Portman übernimmt in „A Tale of Love and Darkness“ die Rolle von Fania, der im Film noch jugendlichen Mutter des Schriftstellers. Die ehemalige „Star Wars“-Darstellerin hat den Film nicht nur geschrieben, inszeniert, finanziert und spielt darin die Hauptrolle. Sie war auch so mutig, ihn in hebräischer Sprache zu drehen. Journalisten, die „A Tale of Love and Darkness“ bereits gesehen haben, prophezeien einen Triumph.

Festival de Cannes
Natalie Portman in „A Tale of Love and Darkness“
Das vermutlich exzentrischste Werk des Festivals läuft in der Director’s Fortnight und stammt von Takashi Miike („Audition“): „Yakuza Apocalypse: The Great War of the Underworld“ begibt sich mit Akira, einem jungen Mann, der unbedingt Teil der Tokyoter Unterwelt werden will, auf einen visuellen Höllentrip. Als er endlich Einlass ins unheilige Universum der Yakuza findet, mutiert Akira selbst zum Vampir und killt Seite an Seite mit einem gigantischen, gelben Plüschfrosch. Ergibt alles keinen Sinn? Kann schon sein. Aber vermutlich macht es Spaß.
Maya McKechneay, ORF.at
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