Wohin steuern Briten?
Die Wahl des britischen Unterhauses am Donnerstag wird vom Rest Europas mit Sorge verfolgt. Der Urnengang könnte weitreichende Folgen für das Verhältnis Großbritanniens zur EU haben. So offen der Ausgang der Wahl ist, so offen ist auch, wohin die traditionell europakritischen Briten in ihrer EU-Politik steuern.
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Den Europaskeptikern in seiner Partei hat Tory-Premier David Cameron für den Fall seiner Wiederwahl ein Referendum über den Verbleib in der EU bis 2017 versprochen. Das sei auch in einer Koalition nicht verhandelbar. „Ich werde nicht Premierminister einer Regierung sein, die dieses Referendum nicht liefert“, sagte der Parteichef und Spitzenkandidat der Konservativen zuletzt gegenüber der BBC. Ob ihm dieses Versprechen die nötigen Stimmen bringt, ist unklar, das Rennen zwischen ihm und Labour-Herausforderer Ed Miliband ist denkbar knapp - mehr dazu in oe1.ORF.at.
Schulz: „Sehr schwierige Situation“ bei Cameron-Sieg
Für EU-Parlamentspräsident Martin Schulz ist die Wahl für Europa „von richtungsweisender Bedeutung“. Wenn die Konservativen wiedergewählt würden, müsse Cameron sein Versprechen eines Referendums wahr machen, sagte Schulz in einem Interview mit WDR und NDR am Donnerstag. Das bringe Großbritannien und die EU möglicherweise „in eine sehr schwierige Situation“. Eine Labour-Regierung in London wäre hingegen, „was die Europapolitik angeht, auf einer ganz anderen Linie als Cameron“, sagte Schulz. Ihr Stil sei „sicher kooperativer als der von David Cameron“.
Die letzten Umfragen
Auch die letzten Umfragen sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Torys und Labour voraus. Die BBC hat sämtliche Umfragen in einer Grafik zusammengefasst, auch der „Guardian“ zeigt die Entwicklung der vergangenen Wochen inklusive der jüngsten, am Mittwoch veröffentlichen Umfrage.
Dieser wolle allerdings auch „unter allen Umständen“ in der EU bleiben. Mit dem Versprechen einer Volksabstimmung habe sich Cameron aber „eine Kampfzone eingehandelt, in der er nicht immer Herr des Verfahrens ist“.
Alleinregierung ausgeschlossen
Die Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Cameron und Miliband voraus. Laut der jüngsten Umfrage der BBC liegen Camerons Torys bei 34 Prozent, Milibands oppositionelle Labour-Partei kommt auf 33 Prozent. Keiner dürfte allein regieren können. Für die Rolle des Königsmachers kommen im Wesentlichen drei kleinere Parteien infrage: die Scottish National Party (SNP), die Liberaldemokraten von Vizepremier Nick Clegg und die rechtspopulistische und EU-feindliche UK Independence Party (UKIP) von Nigel Farage.

Reuters/Stefan Wermuth
In 650 Bezirken wird gewählt - ein Endergebnis gibt es erst am Freitag
Die Liberaldemokraten koalieren derzeit mit den Torys, im Wahlkampf haben sie sich aber auch Labour als Partner angeboten. Die SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon kündigte an, eine Labour-Minderheitsregierung zu unterstützen. Miliband schloss eine Zusammenarbeit mit der SNP nach der Wahl aber aus.
UKIP-Erfolg als Schatten über Wahl
In den vergangenen Jahren hat die EU-Skepsis auf der Insel nochmals zugenommen. Im Mai 2014 wurde die EU-feindliche UKIP bei der Europawahl stärkste Kraft. „Die britische Wahrnehmung ist, dass die EU von Deutschen und Franzosen zu ihren Gunsten und gegen unsere Interessen gelenkt wird“, sagt Charles Grant vom Londoner Centre for European Reform (CER). UKIP sei es gelungen, dass Einwanderung heute mit Europa gleichgesetzt werde und zum „wichtigsten Problem der britischen Politik“ geworden sei.
Roland Adrowitzer zur Wahl in Großbritannien
Anders als in Österreich ist in Großbritannien eine Große Koalition völlig ausgeschlossen. Die Schotten könnten letztlich den Ausschlag über den Wahlausgang geben.
„Wutrede“ zu Milliardenforderung
Cameron ist schon seit Monaten im Wahlkampfmodus, wenn er nach Brüssel kommt. Im Oktober 2014 hielt er eine „Wutrede“, als die Kommission von Großbritannien Nachzahlungen von 2,1 Milliarden Euro zum EU-Budget verlangte. Beim Sondergipfel nach der Flüchtlingstragödie im Mittelmeer kündigte er die Entsendung von drei Schiffen an, schloss aber im selben Atemzug aus, dass gerettete Flüchtlinge nach Großbritannien gebracht würden und dort Asyl beantragen könnten.

Reuters/Darren Staples
Miliband gab seine Stimme bereits ab. Er liegt in den Umfragen in etwa gleichauf mit Cameron.
Im November kam es zu einem Schlagabtausch mit Deutschland, als Cameron ankündigte, auch die Zuwanderung von EU-Ausländern nach Großbritannien zu begrenzen. Einwanderer aus der EU sollten erst nach vier Jahren Anspruch auf bestimmte Sozialleistungen erhalten. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ daraufhin erklären, dass die Freizügigkeit für sie „so grundlegend“ mit dem europäischen Gedanken verbunden sei, dass diese „im Grundsatz“ nicht angetastet werden dürfe.
Miliband will „europäische Zukunft“ nicht bedrohen
Labour-Chef Miliband schloss seinerseits ein Referendum bei einem Wahlsieg aus. Großbritanniens Zukunft liege „innerhalb und nicht außerhalb der Europäischen Union“, sagte der Sozialdemokrat. „Wir werden dieses Land nicht zu jahrelanger Unsicherheit verurteilen, indem wir unsere europäische Zukunft bedrohen.“
Aber auch wenn Cameron die Wahl nicht für sich entscheiden kann: Das Thema EU-Referendum hätte sich für Großbritannien damit nach Ansicht von Experten keineswegs ein für alle Mal erledigt. „Wenn Labour gewinnen und sich in der Regierung wiederfinden sollte, dann bedeutet das nicht, dass ein Referendum verschwindet. Es bedeutet nicht, dass die problematische Beziehung Großbritanniens zur EU verschwindet“, sagte der Politologe Tim Oliver, der an der London School of Economics (LSE) lehrt, im Gespräch mit der APA.
Referendum „wird letzten Endes kommen“
Manche in Brüssel seien vielleicht versucht zu denken: „Ah, es ist eine Labour-Regierung, jetzt ist das Thema vom Tisch. Nein, es wird 2020 wiederkommen, falls die Konservativen wieder an die Macht kommen.“ Zudem könnte eine EU-Vertragsänderung ein Referendum in Großbritannien nach sich ziehen - etwas, dem auch Labour zugestimmt habe. Und Oliver erwartet, dass auch eine Abstimmung über eine Vertragsveränderung letztlich zu einem Referendum über die Mitgliedschaft werden würde.
„Ich glaube, die Leute werden immer ein Referendum fordern“, meinte auch die britische Politologin Melanie Sully, Leiterin des in Wien ansässigen Instituts Go Governance. „Das wird nicht verschwinden, deshalb wird es letzten Endes kommen.“
Folgen für Atompolitik, Militäreinsätze, Finanzmarkt?
Die Wahl ist aber auch aus anderen Gründen für Nicht-Briten spannend. Das Land hat einen von fünf ständigen Sitzen im UNO-Sicherheitsrat und beteiligt sich - bisher - mehr als Deutschland an Militäreinsätzen, zuletzt etwa gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Irak. Wenn die kleineren Parteien mehr zu sagen haben, könnte sich das ändern: „Das macht es schwerer für die Regierung, über Auslandseinsätze zu entscheiden“, sagte Robin Niblett, Direktor der auf internationale Beziehungen spezialisierten Denkfabrik Chatham House.
Ein wichtiges Thema im Wahlkampf war das britische Atomwaffenprogramm Trident. Neben Frankreich ist Großbritannien das einzige EU-Land, das über Atomwaffen verfügt. Labour und Konservative wollen beide die vier U-Boote erneuern, auf denen Atomwaffen stationiert sind, es ist ein Milliardenprojekt. Die kleinen Parteien wünschen sich dagegen günstigere Lösungen (Liberaldemokraten, UKIP) oder wollen atomare Abrüstung (SNP, Grüne).
Nicht zuletzt geht es auch um den Finanzplatz London. Unklare Mehrheitsverhältnisse nach der Wahl dürften die Märkte verunsichern. Käme UKIP auch nur in die Nähe der Macht, „hätten die Märkte Herzrasen, und Firmen müssten das Schlimmste befürchten“, warnen Ökonomen vom Bankhaus Berenberg - groß wäre die Angst vor einem vorgezogenen EU-Referendum.
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