Die Freiheit ist kein Frankfurter Würstel
Wer Stargäste einlädt, darf ihnen den passenden Vortragstitel gleich im Fünfmeterraum auflegen. „What does it mean to be a great thinker?“, versprach das IWM für Montagabend. Geladen: Slavoj Zizek, der in den heimischen Medien gerade als „Stardenker“ gehandelt wird. Nun ist der Star so neu nicht im Feld der großen wie modischen Namen. Doch Zizek zieht in der theoriefaulen Gegenwart wie wenige andere. Bei ihm sind Quereinsteiger ebenso willkommen wie jene, die von Denkern das nötige Maß an Provokation erhoffen.
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Enttäuscht hat Zizek sein Publikum auch zum Auftakt seines zweitätigen Wien-Gastspiels, das ihn zum Höhepunkt auf die große Bühne des ausverkauften Burgtheaters bringen sollte, nicht. Am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) wurde Zizek im Kern sehr (zeit-)politisch - und doch war wieder einmal für jeden etwas dabei: Marx, Stalin, Göbbels, der frühere afghanische König, die indische Ober- und Unterschicht, alle hatten sie ihren Auftritt im Zizek’schen Welt- und Denktheater, das man irgendwie als Performance-Kunst oder laut ausgetragene Selbstdialektik verstehen darf, in der einander Therapeut und Patient in ein und derselben Person begegnen.

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„Manchmal passiert es, dass ein Vortrag eigentlich nur aus Vorbemerkungen besteht“: Slavoj Zizek am Montag am Wiener IWM
„Warm-up“ und „Hardcore“
Natürlich war der Titel seines Vortrages ein Platzhalter. Hier saß ja ein großer Denker - oder zumindest jemand, der davon ausgehen durfte, dass ihm sein Publikum ein mehr als fettes Zeit- und Toleranzbudget für alle Formen der Selbstdarstellung und Gruppenbespiegelung einräumen würde.
Und so war es wie ein kleiner Club-Gig. Zuerst ein paar Warm-up-Nummern: warum sich die Frankfurter Schule immer schon geirrt hat, dass der Stalinismus nur im Lichte der Aufklärung (und ohne Frankfurter Dialektik) zu verstehen sei und wir im Westen ein komplett verzerrtes Bild von Indien hätten. Doch schließlich der sehr politische Kern seines Auftritts, der im Licht gegenwärtiger europäischer Krisen einen sehr trügerischen Begriff von Freiheit in den Blick nehmen wollte.

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Moderator Slawomir Sierakowski versucht Zizek zum Kern des Vortrags zu führen - und rutscht in der Diskursseilschaft gern mit ab
„Ja, wir sind so frei, wie wir nie waren, oder sagen wir es so: Wir dürfen uns so frei fühlen wie nie. Aber was meint diese Freiheit?“, fragte Zizek und blickte dabei auf westliche Gesellschaftssysteme, in denen prekäre soziale Verhältnisse zum Rolemodel des neuen „freibestimmten“ Handelns würden. „Ja, wir sind frei“, wiederholte Zizek, „doch die soziale Textur, in der wir diese Freiheit leben dürfen, wird immer intransparenter und unangreifbarer.“
Die Freiheit und der unsichtbare Rahmen
Zizek, den an Freud und Lacan geschulten Marxisten, interessiert der unsichtbare wie im Kern paradoxe Rahmen, in dem die Politik der Gegenwart stattfindet: Was heiße „freedom of choice“, wenn man eine zentrale Freiheit nicht habe: den Rahmen, in dem diese Freiheit stattfinde, zu verändern.
„In Wahrheit leben wir in einer Zeit, in der erlaubt ist, alles zu tun - doch die stille Erwartung ist, dass wir es eben nicht tun.“ Gerade Europa lebe im Moment unter dem Vorwand von „Brüderlichkeit“, der letztlich die wahren Machtstrukturen und -muster verschleiere. „Ich bin selten einer Meinung mit Judith Butler, aber in einem kann ich ihr folgen. Sie sagte sinngemäß: Unter dem Begriff der Gleichheit würden alte Dominanzmuster mehr denn je exekutiert, also verlange ich als Frau: Gib mir endlich Befehle, damit ich mich positionieren kann!“
„Ich bin Stalin, Sie das Zentralkomitee“
Wir hätten die Freiheit zu wählen, solange wir das „Richtige“ wählten - und damit das System stützen. „Stellen Sie sich vor, ich wäre Stalin und Sie das Zentralkomitee“, nahm Zizek das zunächst erheiterte Publikum in eine imaginäre Gruppenaufstellung mit: „Einer von Ihnen kritisiert mich. Und ein zweiter von Ihnen kritisiert, dass man doch den Genossen Stalin nicht kritisieren dürfe. Und ich sage Ihnen, es ist der Zweite, der schneller exekutiert wird als der Erste.“ Schlimmer als die Kritik sei für unterschiedliche Systeme - und ohne Diktaturen zu rechtfertigen -, die Strukturen, nach denen Herrschaft funktioniere, aufzudecken.
„Wer mag beschissene lokale Mitbestimmung?“
Für die Gegenwart erhofft sich Zizek jedenfalls ein klareres und eben nicht „verschleiertes“ Verhältnis politischer Repräsentation: „Ich will heute als Bürger in geordneten, klaren Verhältnissen leben“.
Selbstorganisation auf lokaler Ebene und den Staat als Verbund lokaler Zusammenschlüsse lehnt er kategorisch ab: „Wollen Sie wirklich in irgendeiner beschissenen lokalen Gemeinschaft leben, wo sie die ganze Zeit darüber diskutieren müssen, wie Sie sich organisieren? Ich nicht! Ich möchte in einer gut organisierten Gesellschaft leben, wo anonyme Mächte diese Dinge tun.“ In seiner Vorstellung von Gesellschaft komme einfach das Wasser aus der Wasserleitung, ohne dass man sich darum kümmern muss, wo es denn her kommt. Und man könne dann so „alberne Dinge tun, wie Bücher schreiben“.
Notwendige Entfremdung
Insofern könne er auch seinen Platz in einem Multikulti-Haus finden, solange es in diesem Klarheit außerhalb der Wohnungsgrenze gebe. Und Klarheit könne in diesem Fall bedeuten: keine erzwungenen Fraternisierungen, keine Verdeckungen existierender Grenzen, aber ein Bewusstsein für eine zentrale Notwendigkeit, ohne die eine Kultur nicht funktionieren könne: die Integration des Prinzips von Entfremdung.
„Das ist es, was der Marxismus nicht verstanden hat. Dank Freud und Lacan können wir die Entfremdung als etwas Überlebensnotwendiges verstehen“, so Zizek. Im gemeinsamen Raum begegneten einander nun einmal Menschen, die dezidiert nichts miteinander zu tun haben wollten - aber sie könnten einander freundlich grüßen, gerade im Wissen, dass man das, was man sage, so eigentlich nicht meine.
Gerald Heidegger, ORF.at
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