„Verzagt nicht! Fasset wieder Mut!“
Nur zweieinhalb Wochen nach der Befreiung Wiens ist am 27. April 1945 die Republik Österreich neu gegründet worden. Die provisorische Staatsregierung unter Karl Renner versammelte sich im Wiener Rathaus zu ihrer konstituierenden Sitzung. Die Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ beschlossen dabei die Unabhängigkeitserklärung.
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Während in anderen Teilen des Landes, vor allem im Westen, noch Kampfhandlungen zwischen den Alliierten und der Deutschen Wehrmacht stattfanden, erlebte das damals von Bomben schwer beschädigte Wien die Geburtsstunde der Zweiten Republik. Und das, obwohl der Zweite Weltkrieg in Österreich erst mit der Kapitulation von Hitler-Deutschland am 8. Mai offiziell für beendet erklärt wurde.
Aus Deutschen wurden wieder Österreicher
Doch durch die provisorische Regierung und die Unabhängigkeitserklärung war das Ende der „Ostmark“ besiegelt, aus den deutschen Staatsbürgern wurden wieder Österreicher. „Von diesem Tag an stehen alle Österreicher wieder im staatsbürgerlichen Pflicht- und Treueverhältnis zur Republik Österreich“, hieß es in der Erklärung. Die verabschiedete Proklamation erklärte zudem die Republik Österreich für „wiederhergestellt“ und „den im Jahre 1938 dem österreichischen Volke aufgezwungenen Anschluss“ an das Deutsche Reich für „null und nichtig“.
Zweite Republik wird 70
Am 27. April 1945 unterzeichnete Karl Renner und die gesamte Provisorische Regierung, der Vertreter der damals gegründeten Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ angehörten, die Unabhängigkeitserklärung.
Renner wie schon 1918 Staatskanzler
Zum Staatskanzler ernannt wurde der damals 74-jährige Karl Renner, der schon bei der Gründung der Ersten Republik 1918 der damaligen Regierung vorgestanden war. Er erhielt direkt nach der Befreiung Wiens durch die Sowjets am 13. April den Auftrag zur Bildung einer provisorischen Regierung.
Am Nachmittag des 27. April, drei Tage vor dem Suizid Adolf Hitlers im Führerbunker in Berlin, wurde die Unabhängigkeitserklärung bei der konstituierenden Sitzung der neuen Regierung im Wiener Rathaus unterzeichnet. Und zwar von Renner und Adolf Schärf für die SPÖ, Leopold Kunschak für die ÖVP und Johann Koplenig für die KPÖ. Zuvor hatte am Vormittag der sowjetrussische Marschall Fjodor Iwanowitsch Tolbuchin dafür seine Zustimmung erteilt.

APA/Heeresgeschichtliches Museum/Arsenal
Zum ersten Staatskanzler der Zweiten Republik wurde Karl Renner ernannt
Moskauer Deklaration von 1943 als Fundament
Als Fundament der Unabhängigkeitserklärung diente die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943, in der das damals nicht existierende Österreich als erstes Opfer der Angriffspolitik Hitlers bezeichnet wurde, es aber auch selbst einen Beitrag zur Befreiung leisten müsse.
Die Proklamation von 1945 gipfelte in dem leidenschaftlichen Aufruf an die Bevölkerung, die provisorische Regierung zu unterstützen: „Verzagt nicht! Fasset wieder Mut! Schließt Euch zusammen zur Wiederaufrichtung Eures freien Gemeinwesens und zum Wiederaufbau Eurer Wirtschaft! Vertagt allen Streit der Weltanschauungen, bis das große Werk gelungen ist! Und folgt in diesem Geiste willig Eurer Regierung!“
41 Personen im „Kabinett Renner“
Insgesamt gehörten der provisorischen Regierung 41 Personen an. Unter strenger Geheimhaltung hatte Renner zwischen 21. und 27. April in der Hietzinger Blaimscheinvilla mit den Vertretern der drei Parteien über die Postenbesetzung verhandelt. Es gab noch keine Ministerien, sondern zehn Staatsämter. Jedes Staatsamt wurde von einem Staatssekretär mit zwei Unterstaatssekretären der anderen Parteien geleitet. Eine Ausnahme bildete das Staatsamt für Finanzen, das mit parteilosen Fachleuten besetzt wurde.
Schärf war Vizekanzler, Kunschak wurde zum Präsidenten des Nationalrats gewählt. Auch Leopold Figl (ÖVP), im November 1945 der erste gewählte Bundeskanzler der Zweiten Republik und hauptverantwortlich für die Erlangung des Staatsvertrags im Mai 1955, gehörte der Regierung als Staatssekretär an.
Zunächst keine Zustimmung der Westalliierten
Doch zunächst wurde die provisorische Regierung nur von der sowjetischen Besatzungsmacht anerkannt, die das Burgenland, Wien, Niederösterreich und Teile Oberösterreichs unter Kontrolle hatte. Die westlichen Besatzungsmächte, also Amerikaner, Engländer und Franzosen, standen der Renner-Regierung lange Zeit äußerst skeptisch gegenüber. Sie hielten den Sozialdemokraten Renner für eine Marionette des kommunistischen Bündnispartners. Schließlich lagen mit Franz Honner an der Spitze des Innen- und Ernst Fischer als Staatssekretär des Unterrichtsressorts zwei Schlüsselministerien in den Händen der KPÖ.
Zu der Skepsis trug auch bei, dass ausgerechnet Renner im März 1938 den Anschluss Österreichs an Deutschland befürwortet hatte. Daher sollte erst einige Monate später, am 20. Oktober 1945, die Regierung von allen vier Besatzungsmächten anerkannt werden. Auch innerhalb Österreichs gab es noch einige Zeit Vorbehalte gegen die neue Regierung. Die westlichen Bundesländer legten sich erst am 20. August 1945 auf die Zusammenarbeit mit dem Kabinett Renner fest.
29. April 1945: Parlamentsgebäude übergeben
Trotz der zunächst fehlenden Zustimmung traf am 29. April, also zwei Tage nach der Unabhängigkeitserklärung, die provisorische Regierung zu ihrer ersten Sitzung im Parlament zusammen. In einem Festakt wurde das durch den Krieg schwer beschädigte Gebäude von der sowjetischen Besatzungsmacht mit Generalleutnant Alexej Blagdatow an der Spitze an die neue Regierung übergeben.
Tausende Menschen säumten während des Marsches der neuen Regierung vom Rathaus zum Parlament die Straßen rund um die Ringstraße und tanzten zu den Klängen des Donauwalzers, da Österreich noch über keine eigene Hymne verfügte. Renner kündigte in einer kurzen Ansprache von der Parlamentsrampe auch die baldige Durchführung allgemeiner Wahlen an.
Bundesverfassung von 1920 trat wieder in Kraft
Trotz der zunächst fehlenden Akzeptanz der Westalliierten setzte die Renner-Regierung bereits am 1. Mai die Bundesverfassung von 1920 in der Fassung von 1929 wieder in Kraft. Acht Tage danach, knapp nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, wurde das NS-Verbotsgesetz erlassen und die Auflösung aller NS-Organisationen verfügt. Am 25. November fanden schließlich die ersten freien Nationalratswahlen seit 1930 statt. Die erste gewählte Regierung - erneut eine Konzentrationsregierung aus ÖVP, SPÖ und KPÖ - hatte ihren Amtsantritt am 20. Dezember 1945.
Opferrolle und Verdrängung
In der Unabhängigkeitserklärung war freilich auch bereits Österreichs offizielle Selbstdarstellung als erstes Opfer Nazi-Deutschlands angelegt, wenn es darin heißt, „dass der Anschluss des Jahres 1938 (...) durch militärische Bedrohung von außen und dem hochverräterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit eingeleitet (...) durch militärische und kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen" worden sei.
Die Zweite Republik bemühte sich von Beginn an, die Distanz zum NS-Regime herauszustreichen. Freilich gab es personell zahllose Kontinuitäten, und die Parteien warben von Beginn an um die NS-Täter und -Mitläufer. Jene Teile der Bevölkerung, die vom NS-Regime und seinen Handlangern jahrelang verfolgt, terrorisiert und ermordet wurden - insbesondere Juden, Roma und Sinti - wurden von der Neuausrichtung der Republik weitgehend ausgeschlossen.
Der bald darauf einsetzende Kalte Krieg nahm zusätzlich den Druck von der heimischen Politik bezüglich Entnazifierung und gründlicher Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und führte dazu, dass die Mittäterschaft vieler Österreicher an den NS-Verbrechen verdrängt wurde. Erst Jahrzehnte später sollte die Waldheim-Affäre die Republik zu einer offenen und gründlicheren Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe zwingen.
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