Vom Anfang, vom Ende, vom Dazwischen
Thomas Raab wurde durch die Krimireihe „Der Metzger“ bekannt. Sein neues Buch ist anders. „Still“ heißt es, doch still wirkt darin gar nichts, zu eindringlich sind die Schilderungen, zu bildhaft die Sprache, zu drängend der Spannungsaufbau. Obwohl hier eine düstere und bedrückende Geschichte erzählt wird, spendet sie gleichsam Trost und lässt hoffen.
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Von Anfang an ist es die Geschichte einer Heimsuchung. Heimsuchung im wortwörtlichen Sinne. Karl wird am Nikolaustag 1982 in Jettenbrunn geboren, einem kleinen Dorf, gelegen am Fuße eines Kalvarienberges. Und man ist sofort mittendrin. Mitten in der Enge, der Ödnis, spürt die Kleingeistigkeit, empfindet die Gehässigkeiten, die Abscheu, die Menschen so schnell für andere empfinden können. Die Anderen, das sind Charlotte und Johann Heidemann, nicht ahnend, was ihrem neugeborenen Sohn fehlen könnte, der unaufhörlich und ohrenbetäubend schreit. Schmerzerfüllt und tobend das Gebrüll des winzigen Babys, keine Linderung, kein Trost ist in Sicht.
Nach Monaten voll Unsicherheit, Kummer und Frustration ein kurzer, zufälliger Moment in einem Kellergeschoß, der Klarheit bringt: Karl Heidemann braucht Stille. Abgeschlossen von der visuellen Außenwelt, eingeschlossen in der auditiven, hört er trotz Ohrenschutzes und räumlicher Schalldämpfung alles und jeden, Herzschläge, Schritte, Gespräche, den Regen, spürt verzweifelte Ablehnung gegenüber allem, was lärmt. Erst ein Erlebnis am Jettenbrunner Weiher verändert seine Gefühlswelt. Gegenstand seiner nie zuvor empfundenen Liebe werden der Tod und die Totenstille, die er mit sich bringt.
Ruhe vor dem Sturm
Bereits hier ist der Leser gefesselt von Raabs realistisch und nachvollziehbar gezeichnetem Handlungsverlauf und der begleitenden allegorischen Erzählebene. Aphorismen werden zu Sentenzen, Sentenzen zu beinahe kindlich anmutenden Sinnsprüchen, die in eine Art Gedankenlyrik münden. Die Sprache, die als Stilmittel begriffen werden muss, dabei aber niemals konstruiert wirkt, verläuft ebenso mäandrisch wie die Handlung. In Windungen und auf Umwegen wird nicht nur geschrieben, sondern auch gehandelt. Trotzdem sieht man sich einer sprachlichen und inhaltlichen Ordnung gegenüber, wie sie schlüssiger nicht sein könnte.
Der Tod lässt Karl keine Ruhe. Er ist für ihn ein Akt der Erlösung, des Friedens und der Liebe. Unbändig vor Neugier läuft er Nacht für Nacht aus dem Haus, durch den Wald, zum Weiher und geht ins Wasser. Zunächst nur mit einer Taucherbrille ausgerüstet, kommen bald schon Taschenlampe, Wäscheleine und ein Plastikröhrchen hinzu. So schwebt er, die mitgebrachten Gerätschaften klug einsetzend, wie ein steigender Drache im Wasser. Kein Auftrieb, keine nötige Bewegung hinauf an die Oberfläche. Still und dunkel alles um ihn. Kein größeres Glück gibt es für Karl.

APA/Herbert Pfarrhofer
Thomas Raab, Autor von „Still“
Frieden in der Ruhe
Dieses Glück will er teilen. Er will Liebe schenken und somit Frieden bringen, und weil es für ihn keine schönere Vorstellung als den Tod gibt, beginnt er genau diesen zu verschenken, anfangs als fliegender Drache im Jettenbrunner Weiher, bald schon anderswo, in der Marienkapelle seines Dorfes, wieder im Weiher, auf Wiesen, in Campingwagen, Zelten, Feldern, in einem Hospiz. Das Leben ist ihm Mühsal, der Tod ein Wunder. Ruhe in Frieden, heißt es, und Frieden findet er in der Ruhe. Für Karl ist unmissverständlich klar, dass es sich hierbei um nichts anderes als ein Geschenk, das schönste, größte und wertvollste Geschenk, handelt. Karl sieht darin nicht nur eine Gabe, sondern auch eine Hilfeleistung. Es ist für ihn das größtmögliche Unrecht, diese zu unterlassen.

Argon Verlag
Buchhinweis
Thomas Raab: Still. Chronik eines Mörders. Droemer, 368 Seiten, 20,60 Euro.
So schreibt Raab: „Wie Geburtswehen die Schreie. Nur ohne Geburtshilfe. Niemand zur Stelle, wenn es qualvoll wird?“ Vom Mord also hin zur Sterbehilfe, unumstritten ein legitimer Einwand, der auch Karl inmitten seines verschobenen Rechtssystems umtreibt. Dieses von ihm geschaffene Reich, in dem er König, Bote und Mittler des Todes ist, erscheint wie selbstverständlich, losgelöst von moralischen Begriffen. Es wird nie ganz klar, ob es sich um eine Art fehlgeleitetes altruistisches Verhalten oder um das Wüten eines zerstörerischen Egozentrikers handelt.
Lebensangst und Todesmut
In großen Abschnitten des in drei Teile und 67 Kapitel gegliederten Romans wird Karls Flucht geschildert, die zu einer Reise wird, auch einer Reise hin zum Verständnis für die Welt, für Karls Welt. Und wieder ist der Leser mittendrin, als sei er ein Sitznachbar in der Schule, ist sich des gleichen Lernprozesses bewusst, sieht sich den gleichen Aufgaben und Herausforderungen gegenüber, schaut womöglich auch einmal ab. Nur ist es eben Karl, der so mühsam, so schmerzhaft zu Antworten findet, die ihm im nächsten Augenblick wieder entrissen und infrage gestellt werden, während man selbst hilflos hinübersieht und ihm die Lösungen zuflüstern möchte.
Dann begegnet er Marie. Ein Wunder, völlig andersartig als alles zuvor Erlebte. Mit ihr kommt ein vages Gefühl von Zweisamkeit, von Liebe und Zärtlichkeit auf, rasch danach folgen rohe Gewalt und Qual und der Verlust Maries. Wieder tritt Karl die Reise an, wird in klösterlicher Gemeinschaft zu Bruder Vitus, Helfer der Schwachen und Sterbenden. Immer noch ruhelos, macht er sich ein letztes Mal auf den Weg, auf die Suche nach Anfang und Ende und findet diesmal die erhofften Antworten. Und endlich kann er sie weitergeben.
Lena Eich, ORF.at
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