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Armenier-Genozid soll verdeckt werden

Angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen am 7. Juni droht das Gedenken an den Völkermord der Armenier heuer vor hundert Jahren in einer neuen Welle des Nationalismus unterzugehen. Die Mehrheit der türkischen Wähler gilt als „nationalistisch, konservativ“.

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Vor dem offiziellen Gedenktag an die Gräueltaten an den Armeniern im Osmanischen Reich am 24. April hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan 2015 das Gedenkjahr des „Sieges von Canakkale“ (Gallipoli) - die verlustreiche und gescheiterte Invasion der Entente-Mächte im Ersten Weltkrieg in den Dardanellen - ausgerufen. Für die armenische Tageszeitung in Istanbul, „Agos“, ist das von Erdogan verfügte „Gegengedenkjahr“ zum Genozid daher nichts anderes als ein „übler Scherz“.

Nationalistischer Mob 1955

Der Völkermord an bis zu 1,5 Millionen Armeniern jährt sich heuer zum 100. Mal. Auch eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren türkischen Vergangenheit, der Pogrom gegen Nichtmuslime in Istanbul, fand vor genau 60 Jahren statt. Im September 1955 zogen Tausende mit Eisenstangen, Hacken und Knüppeln bewaffnet in jene Bezirke Istanbuls, in denen Griechen, Juden und Armenier lebten und ihre Geschäfte betrieben, und brandschatzten, plünderten und mordeten.

Armen Asa, Kind einer armenisch-christlichen Familie, erlebte den nationalistisch fanatisierten Mob in der Nacht des 6. auf den 7. September, als dieser in den Straßen der Metropole randalierte. Asas Familie hatte ein Haus in Sütlüce am Goldenen Horn, nahe Kasimpasa, dem Viertel, in dem Erdogan aufwuchs. Tagelang hätten sie sich verbarrikadiert, sich nicht aus dem Haus gewagt, erzählt sie. Todesangst habe sie gehabt.

An muslimische Mehrheit angepasst

Asa ist geblieben. Viele ihrer Generation haben der Türkei den Rücken gekehrt. Wer nicht in die Diaspora ging, versuchte sich zu arrangieren. Einige haben den armenischen Namen ins Türkische abgeändert. Selbst in der religiösen Ausdrucksweise und den Gebräuchen haben viele sich an die muslimische Mehrheit angepasst.

Laut Etyen Mahcupyan, dem Chefberater von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, zählt die armenische Minderheit in der Türkei heute nicht mehr als 50.000 Menschen. Mahcupyan, ehemaliger Herausgeber von „Agos“, hatte Ende März im belgischen Gent erklärt, er fühle sich mehr als Osmane denn als Armenier. Er gebe keinen Deut darauf, ob seine Ansicht ihn bei einigen Armeniern zum „Verräter“ stempeln würden, ließ er wissen.

Nationalismus als Problem

Nach Ansicht Mahcupyans konnten sich die Armenier mit dem 1923 gegründeten Atatürk-Regime in der Türkei nur schwer identifizieren. Sie hätten sich in den vergangenen zehn Jahren deutlich freier gefühlt, zitierte ihn die türkischen Zeitung „Hürriyet“.

Der Journalist und „Taraf“-Kolumnist Hayko Bagdad, einer seiner schärfsten Kritiker, bezeichnete Mahcupyan, der schon früher mit ähnlichen Aussagen Schlagzeilen gemacht hatte, als „Staatskünstler“, der die politische Macht verteidige. Bagdad prügelte Mahcupyan mit der Metapher des „Hofnarren, der auf Befehl des Königs handelt“.

Während eines Hintergrundgesprächs mit der APA in der Vorwoche in Wien hob Mahcupyan hervor, dass er den Nationalismus als eines der Grundübel ansieht. Es sei „dem kemalistischen Regime“ geschuldet, dass alle Identitäten nationalistisch eingefärbt seien. Er selbst hasse den armenischen Nationalismus am meisten, da er selbst Armenier sei, und danach den türkischen und den kurdischen Nationalismus.

Keine Anerkennung des Völkermordes

In der heutigen Türkei - seit dem Regierungswechsel zu Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) 2003 - stellten aber die „Kultur, die Geografie und eine gemeinsame Vergangenheit“ das verbindende Element dar. Das Land sei als Gesellschaft jedoch immer noch zutiefst gespalten, ihre Gruppen besäßen ein völlig unterschiedliches soziologisches Erbe. Die Türkei sei keine Demokratie, sondern befinde sich erst im Transformationsstadium zur Demokratie.

Einen Kurs der türkischen Regierung in Richtung Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern schloss Mahcupyan aus. Zwar gebe es in der Türkei aktuell 50 bis 60 Kolumnisten, die über den Völkermord an den Armeniern schreiben könnten, ohne Sanktionen oder Strafe fürchten zu müssen. Auch könne demonstriert werden und Kongresse zum Thema Genozid abgehalten werden.

Fehlenden Dialog bemängelt

Die Wählerbasis der AKP stellten aber rund 22 Millionen Türken, die Hälfte davon seien „nationalistisch, konservativ, männlich“, so Mahcupyan. Es ist nicht die Klientel, um mit einer offeneren Haltung zum armenischen Genozid auf Stimmenfang für die Parlamentswahlen im Juni zu gehen. Eine Zuschreibung, die sie mit vielen Stammwählern der Oppositionsparteien, den Rechtsnationalen und Kemalisten vereint.

Der französische Historiker Raymond Kevorkian, selbst Armenier, warnte gegenüber der Zeitung „Agos“ eindringlich vor einem neuen „gefährlichen Nationalismus“, der sich in der Türkei zusammenbraut. Das Fehlen eines politischen Dialoges und die Berufung auf nur eine Identität, die hartnäckig alles andere negiert, seien Indizien dafür. Es gebe eine Kontinuität der „Ausschlussideologien“ seit 1915. Diese seien wieder auf dem Vormarsch, aber durch eine eindrucksvolle Diplomatie, wie sie bei der „Kurden-Frage“ vorgeführt werde, verschleiert.

Andrea Sieder, APA